Monat: Mai 2025

Im Wartesaal…

Bruno ist mir im Laufe der Jahre ein väterlicher Freund geworden; ein kreativer und weiser Mann.
„Wie geht es Ihnen?“ frage ich an seinem 90. Geburtstag.
„Ach“ sagt er lächelnd, „ich bin ja jetzt im Wartesaal.“
Ich erschrecke: Im Wartesaal??? Das ist ja furchtbar! Ich will widersprechen, hole schon Luft –  und stocke: Bruno wirkt so zufrieden und ausgeglichen. Alt und lebenssatt, nennt das die Bibel.
Seltsam. Warum denke ich bei „Wartesaal“ sofort an einen zugigen, ungemütlichen Raum mit Holzbänken? 
Brunos Wartesaal ist ganz anders: seine Wohnung ist gemütlich. Er hat viele schöne Erinnerungen um sich gesammelt, ist umsorgt von seinen Kindern, seine Enkel und Urenkel besuchen ihn regelmäßig. 

Er wartet geduldig – und freut sich auf das, was kommen mag.

Ehrenpreis und Gänseblümchen

Ich liebe den Frühling. Unser Garten verändert sich mit jedem Tag. Es gibt so viel zu entdecken: Pflanzen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. 
Ehrenpreis und Spindelstrauch, Schneeball und Wolfsmilch, Weicher Frauenmantel und Hirschzungenfarn. 
Wer hat sich all diese wunderschönen Namen ausgedacht? Da schwingt so viel Phantasie, so viel Poesie mit, so viel Liebe zur Schöpfung. 
Besonders schön finde ich die „gefiederte Sockenblume.“  
Ihr wissenschaftlicher Name klingt ganz nüchtern: Epimedium Pinnatum. 
Oder Bellis Perennis. Das ist der lateinische Begriff für unser Gänseblümchen. 
So muss es im Garten Eden gewesen sein: Adam und Eva haben nicht nur den Tieren Namen gegeben, sondern auch den Pflanzen – und wenn eine Blume einen liebevollen Namen trägt, dann ist sie mir besonders nahe. 

Geduld?

Der Dichter Bertold Brecht schreibt:
„Ich sitze am Straßenrand. Schaue beim Reifenwechsel zu. 
Ich war nicht gern, wo ich herkomme.
Ich will nicht gern dahin, wo ich hinfahre.
Warum bin ich ungeduldig?“
Ja, warum?
An der Kasse im Supermarkt, im Stau auf der Autobahn, selbst beim Zahnarzt im Wartezimmer: immer bin ich ungeduldig
Aber manchmal gelingt es mir, manchmal wechsle ich den Blickwinkel:
Dann sehe ich in der Schlange an der Kasse einen Vater. Er schneidet seinem Kind Grimassen, die beiden lachen sich kaputt. 
Im Wartezimmer beim Zahnarzt finde ich in einer Zeitschrift einen tollen Bericht über Hummeln, die mit bunten Kugeln spielen. Ich freue mich noch den ganzen Tag drüber. 
„Warum bin ich so ungeduldig?“ fragt Bertold Brecht.
Weil ich meine, ich muss noch sein, wo ich gerade herkomme? 
Weil ich schon sein will, wo ich hin muss?
Und verpasse diesen Moment, dieses Geschenk in all seiner Fülle?