Der Sohn sitzt lange am Sterbebett seiner alten, lebenssatten Mutter.
Er hat sich nie getraut, sie zu fragen, heute ist die letzte Gelegenheit.
„Glaubst du an Gott?“ fragt er sie schließlich.
Sie zögert einen Moment.
„Ich weiß nicht…“ sagt sie dann.
„Zumindest bete ich zu ihm.“
Sie weiß nicht. Aber sie betet. Sie weiß, zu wem sie sprechen kann.
Der Glaube ist manchmal nur eine vage Hoffnung.
Aber was heißt hier „nur?“
Hoffnung ist im Leben oft genug mehr, als man erwarten kann.
Der Sohn wird mutiger. Er fragt weiter:
„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“
„Ach nein!“ antwortet sie. „Einmal leben reicht nun wirklich hin!“
„Das meine ich nicht. Glaubst du, dass du ins Paradies kommst?“
Die alte Frau lächelt, schüttelt den Kopf: „Dazu fehlt mir die Phantasie.“
Sie braucht nicht viel, kein Konzept, keine großen Bilder.
So ist es oft mit dem Glauben.
Manchmal ist da nur ein Hauch, eine Ahnung, ein Suchen. Man kann es kaum in Worte fassen.
„Zumindest bete ich zu ihm“ sagt sie.
Sie betet zu einer großen Kraft, die sie nicht kennt, von der sie wenig weiß.
Es ist wie mit allem Großen im Leben – auch mit den Menschen, die ich liebe.
Ich kenne sie nicht wirklich. Oft genug habe ich nur eine vage Ahnung von dem, was sie gerade bewegt.
Jeder Mensch hat ein Geheimnis. Jeder Mensch ist ein Geheimnis.
Lieben ist immer auch glauben: vertrauen, ohne zu wissen.
Glaubst du an Gott?
Ja. Auch wenn ich dir nicht genau sagen kann was und warum.
Aber ist das so wichtig?