Monat: April 2013

Leben ohne Uhr

Andacht für den NDR

Sie arbeitet hart und viel, ist der reinste Wirbelwind.
Aber wenn es drauf ankommt, hat sie Zeit. Sie hat für jeden ein freundliches Lächeln; Zeit für einen kurzen Plausch, für ein langes Gespräch.
Irgendwann fällt mir auf: Sie trägt gar keine Uhr – und das bei ihrem Pensum.
„Nein, ich habe keine Uhr“ sagt sie und lächelt mich an. „Schon lange nicht mehr. Brauche ich nicht.“
Wie macht die das?
Sie hat Zeit – aber keine Uhr.
Ich dagegen habe eine Uhr – aber keine Zeit.
Mein Tag ist genau getaktet. Und wehe, es stört mich jemand! Dann werde ich schnell nervös, wimmle ihn ab. Muss schnell weiter. Meinen Plan einhalten. Ist noch so viel zu tun!
Und abends bin ich dann müde und ausgelaugt, frage mich: „Was hast du eigentlich den ganzen Tag gemacht?“
Woran liegt das?
In der Bibel wird folgende kleine Szene geschildert:
In Jerusalem, am Eingang zum Tempel, sitzt einer, der sich nicht mehr rühren kann. Als Petrus vorübergeht, hofft er auf ein Almosen. Doch Petrus bleibt nur ruhig vor ihm stehen, schaut ihm in die Augen und sagt: „Geld habe ich keins. Doch im Namen von Jesus aus Nazareth sage ich dir: Steh auf und geh umher.“
Steh auf und geh umher.
Nichts weiter.
Wenn ich mich gelähmt fühle, mich nicht mehr rühren kann, dann neige ich dazu, so eine Art Masterplan aufzustellen.
Ich sage mir dann: „Reiß dich zusammen! Überleg dir genau, was heute dran ist und was du heute Abend geschafft haben willst – und dann geh los!“
Petrus macht keine Pläne. Er gibt auch keinen Ratschlag.
Er sagt nur: „Geh umher. Suche nicht. Lass dich finden.
Lebe dein Leben. Bleib bei dem stehen, der dich gerade braucht. Lache mit ihm – oder weine mit ihm.
So wie diese Frau: Sie hat so viel zu tun. Aber sie braucht keine Uhr. Ich will das in Zukunft auch versuchen, wenigstens ab und zu: aufs Herz hören und nicht aufs Ziffernblatt starren.

Knopf im Ohr

Morgenandacht für den NDR

Knopf im Ohr
„Wie bitte?“
Sie steht mir gegenüber, strahlt mich an und nimmt den Knopf aus dem Ohr. Sie hat meine Frage gar nicht gehört, die Musik in ihrem Ohr war lauter.
„Du hörst viel Musik?“ frage ich.
Sie lacht: „O ja! Am liebsten hätte ich die Kopfhörer den ganzen Tag auf. Immer die richtige Musik zum richtigen Anlass.“
Wir reden einen Moment, dann drückt sie ihren Knopf wieder ins Ohr und zieht fröhlich von dannen.
Ich bin neugierig geworden.
Was sie jetzt wohl hört? Sie taucht ein in ihren ganz eigenen Klangraum.
Ich selbst könnte das ja nicht so gut haben. Immer den Knopf im Ohr: in der Straßenbahn, beim Joggen, beim Fahrrad fahren… Mir wär das auch zu gefährlich.
Aber was haben wir für Möglichkeiten!
Du kannst dir die Musik für dein Leben selbst zusammenstellen, kannst ganz eintauchen.
Was hätten wohl Paul Gerhardt oder Johann Sebastian Bach davon gehalten?
Ob sie auch mit Knopf im Ohr…?
Natürlich, die beiden hatten genug eigene Musik im Kopf.
Aber möglich wäre es, oder?
Was hätten sie wohl gehört, wenn sie fröhlich oder wenn sie traurig waren?
Was wäre das Leben ohne Musik!
Wenn ich zum Beispiel Major Tom höre, dann weiß ich wieder ganz genau wie das damals war, mit Mitte zwanzig: völlig losgelöst.
Oder mein liebstes Kirchenlied: „Geh aus mein Herz“ von Paul Gerhardt. Wie schön ist Gottes Welt! Und wie gut zu leben.
Immer den Knopf im Ohr? Ach ich weiß nicht.
Aber ab und zu im Auto ist es doch ganz schön: meine Musik.
Ganz für mich allein. Und manchmal singe ich auch mit – laut und ein bisschen schräg.
„Singen vertreibt den Teufel!“ meint Martin Luther.
Recht hat er!

Du sollst nicht

Andacht für den NDR. Zu hören heute gegen 9.20 Uhr auf NDR Radio Niedersachsen

Wir Christen sagen: Die Zehn Gebote sind eine Richtschnur fürs Leben. Sie sollen unser miteinander regeln.
Aber: Das sind ja fast alles Verbote!
Du sollst nicht töten, sollst nicht stehlen, du sollst nicht Ehebrechen, du sollst nicht…
Acht der zehn Gebote sind Verbote, Warnungen.
Bremst uns das nicht aus?
Wir haben doch gelernt, positiv zu denken, aufs Leben zuzugehen! Wir wollen vor allem wissen, was wir tun und nicht, was wir lassen sollen.
Aber je länger ich Seelsorger bin, desto deutlicher wird mir der Sinn der zehn Gebote.
Kurz vor der Silberhochzeit muss er dringend mit mir sprechen. Er ist verzweifelt. Seine Frau hat ihn verlassen. Von heute auf morgen. „Wir lieben uns doch!“ sagt er „und ich war ihr immer treu – bis auf dieses eine einzige Mal. Und es bedeutet mir überhaupt nichts. Aber das ist ihr völlig egal. Sie kann mir nicht verzeihen. Was soll ich bloß machen?“
Die beiden brauchen lange, bis sie wieder zusammenfinden.
Ein einziger Fehler – und ein ganzes Leben kann zerbrechen.
Du bist dein Leben lang unfallfrei gefahren. Doch dann bist du einen Moment unaufmerksam.
Ihr seid seit Ewigkeiten gute Nachbarn. Und dann macht er eine abfällige Bemerkung über deine Tochter.
Wir sollen positiv denken. Es gut meinen, unseren eigenen Weg gehen. Das erzählt uns heute jeder Ratgeber. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zum erwachsen sein gehört es genauso, Dinge nicht zu tun, denn du kannst nichts zurückholen.
Doch zwei Gebote sagen uns auch, was wir tun sollen: Du sollst den Feiertag heiligen. Das heißt für mich: Nehmt euch Zeit füreinander, feiert das Leben. Atme durch und lass los. Mindestens für einen Tag in der Woche.
Und das zweite, positive Gebot lautet:
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir´s wohlgehe und du lange lebst auf Erden.“
Kümmere dich um die Menschen, die Gott dir anvertraut – auch im Alter.
Zusammen bleiben in Freud und Leid. Das ist das Fundament des Lebens.

Die 10.000 Stunden Regel

Eine Morgenandacht für den NDR. Zu hören heute gegen 9.20 Uhr auf NDR Radio Niedersachen

Haben Sie schon mal was von der 10.000 Stunden Regel gehört?
Eine wissenschaftliche Studie behauptet: Wenn jemand etwas 10.000 Stunden lang übt, dann kann er es perfekt. Das Talent spielt keine Rolle. Wenn das wirklich stimmen würde, dann müsste ich nur 10.000 Stunden üben, um so perfekt Klavier zu spielen wie Lang Lang.
Aber Vorsicht! Ich habe das mal durchgerechnet. Wenn ich in einem Jahr halbwegs perfekt Klavier spielen wollte, dann müsste ich jeden Tag 27,4 Stunden üben. Das klappt also schon mal nicht. Und wenn ich es langsam angehen lasse – sagen wir mal ich übe jeden Tag eine Stunde – dann brauche ich 27 Jahre.
10.000 Stunden sind eine Menge Zeit. Aber ob das reichen würde? Ich weiß nicht. Klavierspielen ist schließlich mehr als reine Fingerfertigkeit.
Aber: Wenn ich 10.000 Stunden geschenkt bekäme: Was würde ich gern lernen?
Mir fällt sofort eine Menge ein; gar nichts Großes, eher kleine, alltägliche Lebenskünste.
Ich würde gern lernen, aufmerksamer zuzuhören und genauer zu beobachten, damit ich dem Geheimnis des Lebens auf die Spur komme. Ich möchte der Liebe vertrauen lernen – der Liebe, die stärker ist als der Tod; und die Menschen endlich so annehmen, wie sie sind. Zur richtigen Zeit reden – und schweigen. Das würde ich gern können. Ich möchte auch gern lernen, wichtiges und unwichtiges zu unterscheiden und eine gute Zeiteinteilung, damit ich mehr Zeit habe für die Menschen, die mir nahe stehen.
Je länger ich darüber nachdenke, desto länger wird die Liste. Wenn ich für jedes 10.000 Stunden brauche, dann werden meine Tage nicht langweilig.
Und beim Nachdenken wird mir deutlich:
Für ein gutes, gesegnetes Leben gibt es keine Zauberformel. Es ist ein langer, mühsamer Weg. Du brauchst viel Zeit, Kraft und Geduld. Du musst immer wieder üben, dich einüben.
Und du wirst das nicht alles lernen. Aber das musst du auch gar nicht.
Wenn du ein Talent einübst und in Liebe mit anderen teilst, dann ist es genug.
Und welches Talent möchten Sie erlernen in der Zeit, die Gott Ihnen schenkt?