Monat: September 2019

Abschied nehmen?

Wir haben ich einen alten Pastor beerdigt. Er hatte ein gesegnetes Leben.
Auf dem Rückweg vom Grab spricht mich ein alter Kollege an:
„Sie haben zweimal gesagt „Wir nehmen Abschied.“ 
Ich nicke und schaue ihn fragend an.
„Aber das stimmt doch gar nicht!“ sagt er.  „Wir nehmen nicht Abschied! Ich bin jetzt über achtzig Jahre alt und ich lebe mit so vielen Toten: mit meinem Bruder. Er ist im Krieg vermisst. Wir haben noch lange gehofft. Er hat mich nie wirklich verlassen. Oder meine Mutter. Sie begegnet mir heute noch in meinen Träumen. Manchmal lächelt sie freundlich. Manchmal ist sie gar nicht einverstanden.“
Wir bleiben einen Moment stehen. So habe ich das noch nie gesehen. Die Verstorbenen gehen von uns – und bleiben doch. 
Mir fällt eine Szene ein: 
In seinen Memoiren beschreibt der Psychoanalytiker Irving Yalom einen Alptraum: Er rast auf einen schwarzen Abgrund zu. Plötzlich sieht er im Augenwinkel seine Mutter. Er ruft ihr zu: „Hallo Mama! Bist du zufrieden mit mir?“ 
In diesem Moment schreckt er auf. Irving Yalom schreibt: „Ich hatte diesen Traum mit 85 Jahren! Kann es sein, dass das Urteil meiner Mutter das einzige ist, was mich mein Leben lang angetrieben hat? Lebe ich für den Applaus von genau zwei Händen – von zwei Händen, die schon lange nicht mehr applaudieren?“
Ja, mein alter Kollege hat Recht – und er hat nicht Recht. Wir nehmen Abschied und wir tun es nicht. Das macht das Ganze nicht einfacher, im Gegenteil. Du spricht mit deiner Mutter, siehst deinen Vater. Manchmal kämpfst du innerlich mit ihnen. Manchmal machen sie dir Mut.
Es ist so: Wichtige Menschen bleiben, sie verlassen uns nie.
Manchmal helfen sie. Manchmal hindern sie uns am Leben.