Monat: September 2015

Zeit für mich

Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung.

Ein Bild aus der Bibel hat mich schon immer fasziniert: „Und Jesus ging allein auf einen Berg“ heißt es dort.
Ganz allein sein, nur für sich. Auf einem Gipfel sitzen mit einer phantastischen Aussicht. Eine wunderbare Vorstellung.
Aber länger allein dort oben bleiben? Ohne die anderen, ohne ein Buch – ohne Smartphone? Könnte ich das wirklich aushalten?
Eine Freundin ist den Jakobsweg gepilgert. Sie ist begeistert. Nur eines hat sie genervt: jeder zweite hat gefragt: „Was ist dein Schnitt? Wie viele Kilometer schaffst du am Tag?“
Wir wollen etwas zu tun haben! Immer! Es muss vorangehen! Da kannst du nicht einfach so auf einen Berg gehen! Das muss einen Sinn haben! Du tust was für deine Fitness oder stellst einen persönlichen Rekord auf: in einer Stunde bis zum Gipfel!
Einfach mal so auf einem Berg sitzen, allein? Undenkbar! Doch wir spüren, dass uns genau das fehlt. Aber wer hat schon Zeit, einfach mal auf einen Berg zu steigen, sich für längere Zeit zurückzuziehen?
Bei dem Schriftsteller Jorge Bucay habe ich eine einfache Übung für den Alltag gefunden:
Setz dich einmal in der Woche für eine Stunde in deinen Lieblingssessel oder in ein Café und tue gar nichts! Zuerst wirst du unruhig, dann wütend: wann ist die Stunde endlich vorbei?! Doch am Ende wirst du von einer tiefen Ruhe erfasst, von der Kraft, die dein Leben trägt.
Ich habe das im Urlaub ausprobiert: eine Stunde am Strand, ohne irgendwas zu tun. Es war super! Zu Hause schaffe ich inzwischen zwanzig Minuten – immerhin…
Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini

Entschleunigung

Wir wollen einen Termin vereinbaren. Er soll seine Freundin fragen, ob es morgen passt.
Er zieht sein Smartphone aus der Tasche, schickt ihr eine SMS.
„Ping!“
Eine Minute später meldet sie sich zurück.
„Nein! Morgen kann sie nicht.“
„Übermorgen?“
„Muss ich fragen.“
Er schreibt die nächste SMS.
Ich werde leicht nervös: „Früher konnte man mit den Dingern auch telefonieren.“

Die Digital Natives schreiben nur noch.
Eigentlich gar nicht so dumm.
Nachrichten schreiben ist irgendwie vorsichtiger, zarter.
Die andere hat einen Moment Zeit zu überlegen, kann antworten oder nicht.
Eine Form der Entschleunigung.