Monat: März 2020

Der Apfelbaum

Die letzten Nächte waren noch mal frostig. Morgens ist am Vogelhaus bei mir vorm Fenster wieder der Bär los. Die Stare, Spatzen und Meisen haben mächtig Hunger nach den kalten Nächten und machen richtig Alarm. Ich beobachte sie durch die Scheibe. In Windeseile haben sie das ganze Futter weg gepickt und fliegen wieder davon.
Ich schaue ihnen hinterher und beneide sie: „Die Vögel haben es gut,“ denke ich, „die sind frei. Können fliegen, wohin sie wollen. Und wir sitzen hier fest, dürfen kaum noch aus dem Haus.“ 
Aber halt! Ganz so ist es ja doch nicht! Meine Gedanken, meine Träume und meine Phantasie können ja auch fliegen, sogar weiter als der kleine Spatz, der sich da gerade auf den Weg macht.
Ich schließe für einen Moment die Augen. 
Lasse meine Gedanken fliegen. In unserem Garten steht ein Apfelbaum. Noch ist er kahl, aber er treibt schon aus, auch wenn ich nichts davon sehe. Er lässt sich nicht aufhalten. Im Mai wird er viele wunderschöne rosa Blüten tragen. Und wer weiß, vielleicht geht es uns und dann auch schon ein wenig besser. Im September trägt er dann große, rote Äpfel, gereift in schwerer Zeit. Dann werde ich zurückdenken an diesen Frühling, an all die Sorgen, die wir uns umeinander gemacht haben. Ich werde mich aber auch dankbar erinnern an all die Menschlichkeit, die mir begegnet ist, die Hilfsbereitschaft und die vielen Menschen, die bis an den Rand ihrer Kräfte für uns da waren.
Bei all meinen Sorgen, Gott hat mir Phantasie geschenkt ich kann sie für einen Moment fliegen lassen. Ich kann mir Kraft schenken lassen für das, was in diesen schweren Zeiten zu tun ist. 

Echtes Leben – oder was Menschen bereuen

Die Passion Jesu beginnt mit einem Fest.
Die Stimmung ist gut. 
Da tritt plötzlich eine Frau hinter Jesus, öffnet ein Fläschchen und salbt ihn mit kostbarem Öl. Dieses Öl ist Stand heute mindestens 1.000 € wert. 
Die Jünger sind empört: „Was machst du da? Man hätte das Öl verkaufen können und das Geld an die Armen verteilen! Das ist doch nicht nötig!“
Jesus widerspricht ihnen: „Lasst sie in Ruhe! Sie hat etwas Gutes für mich getan! Das wird man ihr nie vergessen!“
Wir bereuen am meisten, was wir nicht getan haben. 
Wir geizen viel zu oft mit unserer Zeit, mit unserem Geld. 
Die Reue kommt später:
„Als die Kinder klein waren…“ 
„Wir dachten, wir haben noch so viel Zeit…“
Doch das Großzügige, Verschwenderische hat es schwer in einer Welt, die so viel Aufmerksamkeit frisst: 
Wir sitzen mit Ada, unserer Enkeltochter, in einer Pizzeria. Ada ist vier Jahre alt. Sie interessiert sich für alles. In der Pizzeria ist am frühen Abend noch nicht viel los, nur zwei, drei Tische sind besetzt. An einem Tisch sitzt eine junge Frau, offensichtlich eine Mitarbeiterin. Sie hat nichts zu tun und starrt regungslos auf ihr Smartphone. Ada schaut sie eine Weile interessiert an, dann stubst sie mich an: „Opa, ist die echt?“
Ja, wie ist das mit dem echten Leben? Was verspielen wir, wenn wir mehr Zeit digital verbringen als mit echten Menschen? Ist die nächste Kurznachricht wirklich wichtiger als der Mensch am Nachbartisch – das Foto auf Instagram schöner als der echte Sonnenuntergang?Wir bereuen vor allem, was wir nicht getan haben – ganz egal, was für „gute Gründe“ wir dafür hatten.