Monat: Juli 2013

Abraham

Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung:

Urlaub in der Bretagne.
Ich gönne mir jeden Morgen ein kleines Ritual: setze mich auf die Terrasse eines Cafés, trinke einen Espresso und genieße den herrlichem Blick auf den Atlantik.
Am Nachbartisch sitzt ein alter Mann: vom Wetter gegerbtes Gesicht, grauer Bart und eine Pfeife im Mund. „Ein alter französischer Seebär“ denke ich. „Der ist bestimmt lange Jahre mit seinem Fischerboot aufs Meer gefahren und jetzt genießt er seinen Ruhestand.“
Nach drei Tagen spricht er mich an – im besten Schwiizerdütsch! Ein Urlauber, genau wie ich.
Er hat natürlich auch gerätselt, was ich wohl für einer bin und auf einen sozialen Beruf getippt. So ganz falsch liegt er damit ja nicht. „Und Sie?“ frage ich, „was machen Sie?“ „Ich bin von Haus aus Psychologe“ erzählt er, „habe viele Jahre in Kinder- und Jugendheimen gearbeitet. Aber als die Kinder aus dem Haus sind, haben meine Frau und ich noch mal ganz von vorne angefangen. Wir sind nach Schweden gezogen, an den Siljansee. Da bieten wir im Winter für die Touristen Schlittenfahrten an. Wir haben über dreißig Hunde – und natürlich ein paar Hühner, Schafe…“
„Und?“ frage ich, „Wie ist das neue Leben?“ Er lächelt „Ich habe Jahre gebraucht, um mich zu gewöhnen. Unser Dorf hat fünfzig Einwohner. Der nächste Nachbar wohnt zweihundert Meter weiter. In der Stadt hast du immer was vor. Die Zeit ist knapp. Und jetzt? Wenn der Nachbar vorbeikommt, gibt es erst mal einen Kaffee. Immer. Die Männer reden nicht dauernd über ihren Beruf. Aber sie fragen dich sofort: „Wann warst du das letzte Mal angeln und was hast du gefangen?“
Der Mann am Meer erinnert mich an Abraham. Er ist im Alter gemeinsam mit seiner Frau in ein fremdes Land gezogen. Er hat ein neues Leben und einen neuen Glauben gefunden.
Er wirkt glücklich.
Das macht Mut.

Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini

aufgelesen…

… ein Gedicht von Uwe Dick, es lässt mich nicht mehr los.
Laut gelesen entwickelt es seine ganze Kraft – und sein Lächeln…

wer weiß denn…

wer weiß denn ihr gräserzungen
fabelschatten ob im innern
des denkens – unergründlich
wie das nachtaug der kröte
oder die wege des quarzes
durch den granit – statt eines
letzten wortes nicht doch
ein lächeln beschlossen ist…

jenes o kerkerherz, das du
deiner liebe – wie oft? – versagtest
(geröllnächte lawinentage und
dergleichen ausreden) obwohl
es einzig ihr bestimmt ist
echo: „dir fliegt mein herz
wie ein törichter vogel zu“ und:
„in die sterne baun wir unser nest.“

mehr glück als verstand
im reißenden flug der jahre
ein wenig halt zu finden
„und jemands stunde ist schon nah“
bitt ich nun – dem fliehen
des tages ausgesetzt wie du
meine schwarze zikade –
um die gunst des augenblicks…

daß ich es nicht schuldig bleib´
jenes lächeln – nachts beschworen
tags verraten? – ohne das mein wort
nur ein mundvoll leere ist
ölig wie ein tischgebet
bis ins requiem der mörder
die nicht leben und
nicht sterben können…

ein tag ohne lächeln – schwärzer
als eine nacht ohne stern

Uwe Dick

aufgelesen…

…in der SZ vom 17. Juli 2013

1936 schrieb ein Mädchen namens Phyllis an Albert Einstein einen Brief mit der Frage ihrer Sonntagsschulklasse:

Beten Wissenschaftler?

Fünf Tage später antwortete er ihr:

„Wissenschaftler glauben daran, dass sich jeder Vorgang, inklusive aller Angelegenheiten der Menschen, auf Grund von Naturgesetzen ereignet.
Deswegen wird kein Wissenschaftler daran glauben können, dass der Lauf der Dinge von einem übernatürlich manifestierten Wunsch wie einem Gebet, beeinflusst werden kann…
Gleichzeitig wird jeder, der sich ernsthaft mit Wissenschaft beschäftigt, irgendwann zu der Überzeugung kommen, dass sich in den Gesetzen der des Universums ein Geist manifestiert, der dem Geist des Menschen weit überlegen ist.
So führt die Beschäftigung mit der Wissenschaft zu einem sehr eigenen religiösen Gefühl, das sich allerdings gewaltig von der Religiosität eines naiveren Menschen unterscheidet.“

Ist Beten naiv?
Oder gibt es tatsächlich die Möglichkeit, zu diesem Geist, „der dem Geist des Menschen weit überlegen ist“ in Kontakt zu treten?

Reisezeit

Wir waren in Pont-Aven. Dort hat Paul Gauguin eine Weile gelebt, eine Malschule gegründet.
Ich war ein wenig enttäuscht. Ganz hübsch, ja, aber nichts besonderes, ein Ort wie viele. Und das Kreuz in der Kirche, das Gauguin zu seinem gelben Christus inspiriert hat? Na ja…
Aber was habe ich erwartet? Ich war für einen Nachmittag da, wollte möglichst viel sehen und habe mitgekriegt, was Touristen eben so mitkriegen. Ein paar Stunden reichen nie für einen Ort. Du siehst nur, was alle sehen.
Gauguin war monatelang hier.
Und er seinen eigenen Augen getraut, hat gemalt, was nur er sehen konnte: den gelben Christus, die Badenden an der Mühle im Bois d‘ Amour.
Reisen braucht Zeit.
Und den Mut zum eigenen Blick.

Keine Zeit?

Urlaub.
Endlich Zeit zum Lesen!
Ein Buch über die Zeit: Marc Wittmann, „Gefühlte Zeit – Kleine Psychologie des Zeitempfindens.“
Er zitiert Martin Heidegger:
„Das keine Zeit haben, das so aussieht wie der strengste Ernst, ist vielleicht die größte Verlorenheit an die Banalitäten des Daseins.“
Wenn der Mensch keine Zeit hat, hat er sich selbst verloren.
Ohne Zeit kein Ich.
Auf der anderen Seite: Wenn ich (zu viel) Zeit habe, werde ich nervös: „Will keiner was von mir? Bin ich abgehängt, nicht wichtig?“
Wir spüren die Zeit in der Bewegung und in der Ruhe – in der Arbeit und der Meditation. Auf die Balance kommt es an.
Balancieren.
Ich sehe den Jungen auf der Slackline. Es wirkt so spielerisch – und braucht so viel Übung. Er fällt immer wieder runter. Aber was soll´s? Er hat ja Zeit…

Keine Zeit?

 

Urlaub.

Endlich Zeit zum Lesen – ein Buch über die Zeit:

Marc Wittmann, Gefühlte Zeit – Kleine Psychologie des Zeitempfindens.

Er zitiert Martin Heidegger:

„Das keine Zeit haben, das so aussieht wie der strengste Ernst,
ist vielleicht die größte Verlorenheit an die Banalitäten des Daseins.“

Wenn der Mensch keine Zeit hat, hat er sich selbst verloren.

Ohne Zeit kein Ich.

Auf der anderen Seite: Wenn ich (zu viel) Zeit habe, werde ich nervös: „Will keiner was von mir? Bin ich abgehängt, nicht wichtig?“

Wir spüren die Zeit in der Bewegung und in der Ruhe – in der Arbeit und der Meditation. Auf die Balance kommt es an.

Balancieren.

Ich sehe den Jungen auf der Slackline.
Es wirkt so spielerisch – und braucht so viel Übung. Er  fällt immer wieder runter.
Aber was soll´s? Er hat  ja Zeit…

 

Lebensart

Morgens um neun, irgendwo in der Bretagne:
Vor dem Nobelrestaurant „Perle Noire“ sitzen drei Männer, trinken einen Espresso und genießen den atemberaubenden Blick aufs Meer.
Das Besondere daran? Es sind Müllmänner!
Ihr Wagen steht gleich um die Ecke. Sie sitzen jeden Morgen hier, ihr Pausenritual. Französische Lebensart! In Deutschland unvorstellbar…
Das andere schon: Einer ist im Müllwagen sitzen geblieben; der jüngste von ihnen, so um die zwanzig. Tickert in sein Smartphone. Scheint interessanter zu sein als der Espresso, die Kollegen, das Meer.
Schöne neue Welt…