Monat: Dezember 2015

Der verborgene Gott

Er sagt: „Es ist zu viel passiert. Ich kann nicht mehr glauben.“Ich kann nichts antworten, sein Leid ist zu groß. Er hatte immer geglaubt, dass das Leben gerecht ist, irgendwie. Wenn du gesund lebst, dich an die Regeln hältst, wird alles gut. Doch so ist es nicht.
Wir sollen Gott lieben und fürchten.
Warum fürchten?
Weil wir ihn nie „verstehen,“ weil das, was wir mit dem Wort „Gott“ bezeichnen höher ist als unsere Vernunft.
„Im echten Leben ähnelt Gott dem, wie wir ihn uns vorstellen ungefähr so wie der Leopard der Hauskatze.
Er ist größer, ja. Aber er ist auch furchterregender und viel, viel seltener zu sehen. Gott ist der Gott der tiefen Wälder – nicht der Gärten – ist der geheimnisumwitterte Gral der Sucher. Du kannst dein Leben in einem Wald voller Gott verbringen und ihn nie zu Gesicht bekommen, höchstens Spuren seiner Anwesenheit wahrnehmen:
Eine plötzliche Stille, gefolgt von den Rufen zu Tode erschrockener Menschen, das Gefühl, dass sich etwas knapp außerhalb deines Gesichtsfeldes bewegt.
Oder du hast Glück: gehst im nebligen Morgengrauen spazieren, schaust dich um und siehst für den Bruchteil einer Sekunde etwas Wildes, Erschreckendes, Wunderschönes.
In diesem Sekundenbruchteil prägt sich das Bild unauslöschlich in dein Gedächtnis ein und lässt dich begierig nach mehr zurück.
Die Suche nach Gott ist wie die Suche nach Gnade: Sie wird einem gewährt, aber nicht oft, und man weiß nie, wann oder wie.“

(Ich habe diese Passage in Helen Macdonald`s Roman „H wie Habicht“ gefunden und umgeschrieben.)

 

3. Advent

Ameisen?

  1. Advent
  2. Predigt über Kor. 4, 1-5 in St. Martini Braunschweig

Die Schriftstellerin Susanne Niemeyer erzählt folgende kleine Szene:
Ein kleines Mädchen hockte am Rand des Spielplatzes und sah sehr vertieft aus. „Was machst du?“, fragte ich. „Schau“, sagte es, „die Ameisen.“ Ich konnte nichts Besonderes entdecken. „Sie laufen umher und tragen Sachen und wissen nicht, dass ich sie angucke. Ist das nicht komisch?“ Nachdenklich fügt sie hinzu: „Für die Ameisen könnte ich Gott sein.“
„Wir sind Haushalter über Gottes Geheimnisse“ sagt Paulus.
Was heißt das? Sind wir die, die wissen, dass sie beobachtet werden? Immer? Wie wir hier rumkrabbeln, irgendwelche sinnlosen Dinge tun, uns abmühen mit wer weiß was?
Was sieht Gott, wenn er mich jetzt, in diesem Moment, beobachtet?
Ich bin in der Kirche. Auf der Suche nach… Ja, wonach?
Nach Gewissheit?
Nach der adventlichen Stimmung in all dem Trubel? Suche ich Kraft für meinen Alltag – oder will ich da einfach mal raus?
Was sieht Gott, wenn er mich beobachtet – wie das kleine Mädchen die Ameisen?
Ich kann das nicht sagen. Das ist sein Geheimnis. Gott sieht mehr als ich.
Das ist gar nichts besonderes. Ein Vogel, ein Habicht, sieht schon mehr als ich. Er kann eine Biene genauso scharf erkennen wie ich einen Baum – er sieht auch die aufsteigende Luft, die ihn nach oben trägt. Seine Augen sind den meinen weit überlegen. Er sieht, was mir verborgen ist.
Haushalter, Verwalter der Geheimnisse Gottes.
Das sollen wir sein, sagt Paulus.
Was hüten wir da?
Können wir etwas ahnen, etwas sehen von den Geheimnissen Gottes?
Der Habicht hat vier statt drei Rezeptoren in seinen Augen. Darum kann er mehr sehen als wir. Das ist sein Geheimnis.
Doch was ist das Geheimnis Gottes?
Schauen wir noch einmal auf das kleine Mädchen. Wie sie da hockt und auf die Ameisen schaut:
„Eigentlich könnte ich ihr Gott sein.“
Nein, nicht könnte…
In diesem Moment ist sie ihr Gott. Sie lässt sie in Ruhe. Doch sie könnte auch ganz anders. Ich denke noch mit Grausen an die Experimente, die wir als Kinder mit Ameisen, mit Schnecken, mit Fröschen getrieben haben.
Der Gott kann mit den Ameisen machen was er will.
Kann sie laufen lassen – kann aber auch mal eben mit dem Zeigefinger…
Und die Ameise kann nichts tun – außer im Bau, im Dunkel verschwinden. Sich verbergen vor den Augen ihres Gottes, vor den Augen dieses kleinen Mädchens, Herrin über Leben und Tod.
Doch das kleine Mädchen sagt ja ganz zu Recht:
„Die Ameisen wissen gar nicht, dass sie beobachtet werden.“ Es sei denn, etwas Schreckliches geschieht, die Herrin schlägt zu. Dann wissen die Ameisen, dass ihre Göttin grausam ist, unbarmherzig. Dann wissen sie, dass sie halt nur Ameisen sind. Unbedeutend, eine von vielen. Spielball des Schicksals.
Opfer der Willkür eines kleinen Mädchens.
Ich glaube, dass ist das Lebensgefühl vieler Menschen.
Wir haben Angst vor dem, was wir Schicksal nennen.
Wollen gar nicht wissen, was die Zukunft bringt.
Das Schicksal ist blind.
Doch wenn wir die Angst vor dem Schicksal halbwegs gebannt haben, dann kommt noch eine weitere hinzu:
Die Angst vor den anderen.
Was sollen die Leute sagen?
Ein harmloses Beispiel:
Ich kaufe mir ein neues Auto, einen Touran.
„Ein cooles Teil,“ sagt ein Freund, „ist praktisch und fährt super. Du musst nur wissen, welches Image du dir damit einkaufst.“
Ein Touran ist langweilig. Du bist ein Langweiler.

Nein, du brauchst keinen Gott, der von außen draufschaut.
Die anderen reichen.
Sie sehen dich.
Sie warten nur drauf, dich zu beurteilen – zu verurteilen.
Langweiler ist da noch harmlos.
Du bist immer auf der Hut vor ihrer Meinung. Kannst nicht mal eine Meinungsumfrage machen wie die Politiker. Sie werden dir nicht sagen, was sie wirklich von dir denken. Außerdem ist ihre Meinung nur von kurzer Haltbarkeit – eben noch Hosianna…
Der Gott ist der, der dich beobachtet, von außen betrachtet.
Was sieht er?
Auf jeden Fall mehr, als du ihm zeigen willst.
Der Richtergott sitzt neben dir.
Und du bis es selbst für deinen Nächsten.
Paulus sagt: „Das ist mir völlig egal. Was ihr von mir haltet, interessiert mich überhaupt nicht.“
Doch er sagt das ohne Überheblichkeit. Er sagt: Ihr seid viel zu schnell mit eurem Urteil. Das erste, was ihr tut, wenn ihr einem Menschen begegnet, ist ihn taxieren: hübsch oder hässlich – gut oder schlecht…
Lasst das sein!
Euer ewiges Urteilen und Beurteilen führt euch in den Zynismus: „Der ist ja auch nicht besser…“ und in die Angst:
„Was, wenn die anderen?“
Fragt lieber nach dem, der euch so geheimnisvoll begegnet – der euch leben lässt. Jeden Tag, mit jedem Atemzug. Fragt nach dem, was euch wirklich trägt.
Was ist die Quelle meines Lebens?
Woraus speist sich alles, was in mir lebendig ist?
Ich bin in der Kirche. Auf der Suche nach dem Geheimnis Gottes.
Ich kann es fühlen, doch es fällt unendlich schwer, es auszudrücken.
Das Geheimnis findest du im kleinen Kind – verletztlich, hilflos. Du findest es in dem, der leidet für die anderen – du findest es in dem, der neu beginnt in all dem Leid. Der es durschreitet, überwindet.
Geheimnis Gottes. Ich kann seiner gewahr werden. Und ich soll es hüten wie einen kostbaren Schatz.
Mehr wird nicht von mir erwartet.

Amen.

 

 

 

 

 

Vom Warten

  1. Advent

Von der Geduld.

Gedanken zur Predigt am 2. Advent

„So seid nun geduldig, liebe Geschwister, bis Christus kommt.
Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und den Spätregen.Seid ihr auch geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen Christi ist nahe“

Geduldig sein, etwas ertragen, erdulden. Nicht gleich losrennen. Warten, abwarten.
Die Leute stehen an der Bushaltestelle und warten. Besonders glücklich sehen sie nicht aus. Worauf warten sie, was erwartet sie?
Ich war gerne Fahrschüler. Vor allem wegen des bezaubernden Mädchens, das in Cremlingen eingestiegen ist. Wenn sie nicht da war, war ich enttäuscht. Doch da waren ja noch die Kumpels zum Kartenspielen, quatschen. In der Schule waren wir immer viel zu früh. Auch das hat nichts gemacht. Wir wussten immer was mit der Zeit anzufangen: Fußballspielen mit dem Tennisball, Hausaufgaben machen, eine rauchen an der Oker. Ich habe gerne morgens auf den Bus gewartet. Und wenn er zu spät kam – auch gut. Im Winter sind wir immer mal bis zum Giselawall durchgefahren und zu spät gekommen…

Worauf warten wir?
Worauf freuen Sie sich an Weihnachten? Überlegen Sie sich mal kurz drei Dinge.
Worauf freue ich mich?
Auf das Krippenspiel, die dunkle Kirche, auf den Abend mit der Familie und den Nachbarn.
Ich warte geduldig. Weiß ja, dass es kommt.
Hoffnung ist die Nahrung des Wartens.
Daran kann man sehen, wie es um unsere Welt bestellt ist. Wir warten nicht, weil wir nichts erwarten. Die einen rennen immer hektischer durch die Gegend, die anderen versacken in was auch immer. Hektisch sind sie alle.

Ein Umweltaktivist sagt:
„Ich bin überzeugt, dass manche der radikalen Umweltschützer der Auffassung sind, dass die Menschheit ein Fehler ist und dass sie es nicht verdient, zu überleben.“
Wer nichts mehr erwartet wird böse.

Maria erwartet nicht nur überleben. Maria erwartet leben.
Maria weiß, dass ihr Kind ein ganz besonderes sein wird – das wissen die meisten Mütter, Gott sei Dank.
Maria weiß auch, dass du nicht trennen kannst zwischen dem Menschen und der Menschheit.

Wir gehören zusammen. Und wir sind zu beidem fähig, zum Guten und zum Bösen.
Wann fängt der Tag an? Wann die Woche, wann das Jahr?
Der Tag um Mitternacht. In der Dunkelheit, wenn du schläfst.
Gefühlt beginnt der Tag mit dem Wecker.
Die christliche Woche am Sonntag, dem Tag der Auferstehung, des geschenkten Lebens.
Unsere Woche beginnt mit dem Montag, wenn es wieder losgeht. Das Jahr mitten in der dunklen Jahreszeit. Das Kirchenjahr am 1. Advent, also drei, vier Wochen vor der Sonnenwende; das weltliche kurz danach.

Ich habe noch einen anderen Rhythmus: vor und nach den Sommerferien. Eigentlich eher nach den Sommerferien. Dann geht es wieder los. Etwas fängt an, wenn ich etwas tue, endlich loslege, ab geht die Post.

Doch es gibt noch eine andere Art zu warten. Der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde. Er weiß, dass er nichts tun kann. Er kann nur warten. Erwarten. Er weiß, worauf.

Hoffnung ist die Quelle des Wartens. Der Bauer weiß: das Entscheidende geschieht im Verborgenen, in der Erde. Im Mutterleib. In der Nacht, wenn du schläfst. Und wehe, du kannst es nicht.

„Macbeth will sleep no more.“

Hat ein Samenkorn Hoffnung? Es liegt in der Erde. Wenn Hoffnung der Wille zum Leben ist, auf jeden Fall. Diese Hoffnung wird die Schale zersprengen und zum Licht streben.

Hat die Schwangere Hoffnung?

Es ist ihr zu wünschen. Doch sie trägt sie in sich, ob sie will oder nicht. Maria will nicht schwanger werden. Jetzt noch nicht. Jetzt ist es eine Katastrophe. So, als ob das Weizenkorn mitten im Kalten Winter keimt und erfriert.

Hoffnung ist eine fremde Macht. Wird vom Engel gebracht. Fürchte dich nicht.

Hoffnung, das Neue ist mit Schmerzen verbunden. Doch der ist schon vergessen, wenn das Kind in deinem Arm liegt. Wenn das Schneeglöckchen das Licht der Welt erblickt. Hoffnung ist keine Illusion. Hoffnung ist vernünftig. Warte geduldig. Wie der Bauer auf den Früh- und den Spätregen.

So seid nun geduldig, liebe Geschwister, bis Christus kommt. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und den Spätregen. Seid ihr auch geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen Christi ist nahe. Hoffen und Bangen gehören zusammen.

Wie kann ich mein Herz stärken?

Durch gute Geschichten. Durch Gesang. Durch die kleine Liebe, die ich in diese Welt bringen kann. Durch die Erinnerung an die Zukunft. Und wenn die Auferstehung eben nicht nur im Großen geschieht, sondern eben auch im Kleinen, in jedem Weizenkorn, in meinem kleinen Leben?Die kostbare Frucht der Erde… Das Schöne kommt aus dem Dunkel der Nacht.