Monat: November 2012

Leben mit den Toten

„Kultur entsteht, wenn sich die Lebenden ihrer Toten erinnern. Die Lebenden unterstehen der Hoheit der Toten. Sie sind die Autoren unserer Welt, die wir von ihnen erben.“

(Robert Harrison „Die Herrschaft des Todes“)

Menschliches Leben ist nur möglich mit den Toten.
Ohne sie geht gar nichts.
Was wäre ich geworden, ohne meine Mutter, die tagelang mit mir auf dem Sofa gelegen hat, als ich kleines Kind so schwer Asthma hatte? Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß das nur aus Erzählungen.
Was wäre mein Glaube ohne Paulus?
Was wäre ich ohne den Erbauer meines Hauses, der schon so lange nicht mehr auf der Erde ist?
Es sind ja viel mehr als Spuren, viel mehr als Erinnerungen, die die Toten hinterlassen. Und wenn wir einzelne, große Figuren nennen, dann meinen wir immer eine ganze Generation. Die Steine an St. Martini. Niemand kennt mehr die Steinmetze, die sie behauen und eingesetzt haben. Aber ihre Steinmetz Zeichen sind noch da. Und ihre Steine sowieso. Was wäre das Stadtbild ohne die Kirchen – was wäre mein Glaube? So ist das. Auch wenn ich die Theologie der Steine manchmal verfluche, auch wenn ich unter ihr stöhne. Es nutzt ja nichts.
Menschliches Leben ist Leben mit den Toten. Mit ihrem Fluch und mit ihrem Segen. Ohne sie ist nichts. Wir begraben tatsächlich nur die äußere Hülle.

Buß- und Bettag

Ein Gedanke zum Buß- und Bettag für die Braunschweiger Zeitung.

„Abwarten und Tee trinken!“
Früher war das ein geflügeltes Wort. Ich habe es seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Kein Wunder. Der „Coffee to go“ ist das Symbol unserer Zeit. Und natürlich gibt es längst auch Tee im Pappbecher. Wir sind immer unterwegs, immer muss irgendetwas getan werden. Abwarten? Gepflegt und in aller Ruhe einen Tee trinken? Das kann sich keiner mehr leisten.
Und Buße?
Die geht heute so:
Stopp!
Analysiere deine Fehler!
Wechsle die Richtung!
Lauf weiter!

Wir vergessen dabei das Beten.
Beten ist nur an der Oberfläche ein Tun. Beten ist eine Haltung. Du lässt dich auf den ein, der dir das Leben schenkt. Du empfängst seine Liebe.
Wie kann ich heute beten, am Buß- und Bettag?
Ein schlichtes Vater unser genügt.

Ich falte die Hände. Werde still. Ich erinnere mich an die Schönheit der Welt. Nehme alles aus der Hand Gottes: das täglich Brot, den Sinn meines Lebens, Gerechtigkeit, die Erlösung von dem Bösen. Für diesen Moment lasse ich alles los und bekomme alles geschenkt.
Und was soll ich tun?
Auch darauf finde ich im Vater unser die Antwort:
Vergib deinen Schuldigern. So wie Gott dir vergibt.

Was ist der Mensch?

Predigt am 11.11. 2012
Was ist der Mensch, von einer Frau geboren?
Sein Leben ist nur kurz, doch voller Unrast.
Wie eine Blume blüht er und verwelkt, so wie ein Schatten ist er plötzlich fort.
Und trotzdem lässt du ihn nicht aus den Augen, du ziehst ihn vor Gericht, verurteilst ihn!
Du musst doch wissen, dass er unrein ist, dass niemals etwas Reines von ihm ausgeht!
Im Voraus setzt du fest, wie alt er wird, auf Tag und Monat hast du es beschlossen. Du selbst bestimmst die Grenzen seines Lebens, er kann und darf sie niemals überschreiten. Darum blick weg von ihm, lass ihn in Ruhe und gönne ihm sein bisschen Lebensfreude!
(Hiob Kapitel 14)
Was ist der Mensch, von einer Frau geboren?
Ein nichts, einer von 7 Milliarden.
Tendenz steigend. Er ist ein verbrauchendes Verbrauchsmittel. Störend auf dem Planeten. Es treffen sich zwei Menschen, schlafen miteinander, tauschen ihre Gene – und der nächste ist da. In jeder Sekunde kommen 2,6 dazu. Das sind pro Tag 220.000. Knapp so viele wie in Braunschweig wohnen.
Was macht ihr Religiösen also für ein Gewese um den Menschen, von einer Frau geboren? Kind Gottes? Was soll das? Er ist ein Massenprodukt. Nicht mehr und nicht weniger.
Und genau so wird er dann behandelt.
Der Grieche taugt nichts. Liegt den ganzen Tag am Strand.
Der Chinese ist fleißig. Wird den Amerikaner als Weltmacht bald ablösen.
Der Russe säuft Wodka.
Der Deutsche…
„Moment mal! Einspruch! Das gilt vielleicht für viele, aber doch nicht für mich! Ich nicht! Ich bin kein Massenprodukt! Ich bin etwas ganz besonderes! Sieht man doch gleich!“
Was ist der Mensch, von einer Frau geboren?
Sein Leben ist nur kurz, doch voller Unrast.
Ich habe keine Zeit! Ich muss noch so viel schaffen!
Ziele formulieren – Ziele erreichen. Springen, rennen, immer unterwegs.
Wo sind die Jahre geblieben?
Was habe ich geschafft, was nicht?
Kann ich zufrieden sein mit dem, was ich erreicht habe?
Sei ja nicht zufrieden! Niemals! Oder nur für einen kurzen Moment, an deinem fünfzigsten Geburtstag, vielleicht.
Dann aber hopp, hopp! Weiter! Du musst neue Ziele formulieren! Dich wieder auf den Weg machen! Wer rastet, der rostet!
Das Leben ist viel zu kurz!
Und voller Unrast.
Mach was draus!
Wie eine Blume blüht er und verwelkt, wie ein Schatten ist er plötzlich fort.
Und trotzdem lässt du ihn nicht aus den Augen, du ziehst ihn vor Gericht, verurteilst ihn!
Gut, ich bin eine von vielen Blumen auf der bunten Wiese der Menschheit. Ganz schön anzuschauen, wenn mal einer genauer hinschaut. Aber nicht lange. Verwelkt schon vor dem ersten Frost. Schaue lieber nicht in den Spiegel. Du meine Güte…
Du lässt mich nicht aus den Augen…
Du?
Wer ist du?
Gott?
Ach, du bist kein religiöser Mensch?
Na und? Brauchst du auch nicht.
Es lässt dich trotzdem nicht in Ruhe.
Dein Richter ist klein.
Sitzt im Gehirn. Beäugt dich kritisch. Jede Minute deines Lebens.
„Was machst du da gerade?“
„Wolltest du nicht aufhören zu rauchen?“
„Geht das nicht noch ein bisschen besser?“
„Hattest du dir nicht vorgenommen…?“
Dein Richter ist groß.
Springt dich an, wenn du dich auf den Markt des Lebens begibst.
„Das können wir doch besser, oder?“
„Haben Sie Ihren Auftrag erledigt? Den Termin eingehalten? Prima! Dann auf zum nächsten!“
Dein Richter ist groß. Steht dir gegenüber.
„Wie sieht die denn aus? So kriegt die doch nie einen Kerl!“
Du ziehst dich vor Gericht.
Erbarmungslos.
Du?
Oder sind es doch die anderen?
Keine Ahnung, ist ja kaum zu unterscheiden.
Darum blick weg von ihm, lass ihn in Ruhe und gönne ihm ein bisschen Lebensfreude.
Wo kommt die Ruhe her? Die Lebensfreude?
Will ich das überhaupt?
Kann ich das überhaupt wollen?
Oder gehört dieser Richter zu meiner Natur? Ist er meine Natur?
Das Movens meines Lebens.
Kenne ich Menschen, die er, die es in Ruhe lässt? Oder Momente, in denen ich das spüre?
„Man müsste noch mal zwanzig sein und so verliebt wie damals!“
Das Lied ging Thomas am Tag nach seinem fünfzigsten Geburtstag gar nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten es beim Einzug der Überraschungsgäste gespielt. Seine Frau Sabine hatte sie heimlich eingeladen: alte Freunde aus der Schulzeit und dem Studium. Und er hatte sich unglaublich gefreut. Ein paar von ihnen hatte er seit Jahren nicht gesehen. Und dazu eben dieses Lied: „Man müsste noch mal zwanzig sein.“
Am Morgen nach der großen Feier war Thomas auch irgendwie froh, dass er es geschafft hatte. Nein, nicht die fünfzig Jahre, die Feier mit allem drum und dran! Ja klar, es war schön gewesen, aber vorher hatte er doch so gemischte Gefühle gehabt. Aber das zählte jetzt nicht mehr. Er war nicht nur erleichtert, er schwebte auf Wolke sieben.
Thomas hatte das Gefühl: „Du wirst mit jeder Menge Proviant in die zweite Halbzeit geschickt. Es waren so viele liebe Menschen da und die haben sich so viel Mühe gegeben.“
Seine Geschwister hatten eine Diashow mit Bildern aus der Kindheit vorbereitet, die Arbeitskollegen ein Lied geschrieben. Und er hatte viele tolle Geschenke bekommen. Es waren auch ein paar interessante Bücher dabei. „In der Mitte des Lebens“ von Margot Käsmann, zum Beispiel. Er blätterte es ein bisschen skeptisch durch. Aber er würde es lesen.
Er hatte sich auch Geld gewünscht für seine Wanderausrüstung. Und Klaus, ein Freund aus der Jugendgruppe, hatte einen Klingelbeutel aus Holz und Stoff gebastelt. Das war richtig nett.
Die letzten Gäste waren am frühen Morgen gegangen.
Und über allem schwebte immer noch dieser uralte Schlager: „Man müsste noch mal zwanzig sein.“
Müsste man? Thomas fand das gar nicht. Sicher, die alten Freunde hatten ihn auch an seine alten Träume erinnert. Die meisten waren ziemlich hochtrabend gewesen, so wie es sich für junge Leute gehört. Aber wenn er es sich recht überlegte: Die wichtigsten waren in Erfüllung gegangen. Er wollte unbedingt Ingenieur werden, Autos bauen. Das hatte er geschafft. Und Thomas liebte seinen Beruf immer noch. Und auch wenn er das als zwanzigjähriger nie zugegeben hätte: Er wollte schon damals eine Familie, Frau und Kinder. Und dass ihre Ehe gehalten hatte, dafür war er zutiefst dankbar. Ja, auch daran hatten die alten Freunde ihn erinnert.
Sicher, es gab auch Träume, die er sich noch nicht erfüllt hatte: eine Alpenüberquerung, zum Beispiel. Und er wollte unbedingt noch mal ehrenamtlich was für Menschen tun; in der Bahnhofsmission vielleicht oder in einem Treff für Obdachlose. Aber mit fünfzig war ja noch nicht aller Tage Abend, oder? Und er hatte immer noch Träume. Sie waren nur realistischer als mit zwanzig. „Man müsste noch mal zwanzig sein.“ Das Lied war ein netter Gag gewesen. Aber für Thomas passte heute ein Satz aus der Bibel viel besser:
„Siehe, ich will euch tragen bis ins Alter.“