Autor: Friedhelm Meiners

Magdeburg

Ein Jahr und einen Tag. 

So lange ist es her: das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg.
Damals wurden Berge von Blumen niedergelegt, Gips-Engel, Fußballschals und Plüschtiere. 
Die Magdeburger Fotografin Elisabeth Heinemann hat die Orte der Trauer auf ihren Fotos festgehalten.
Sie war damals selbst auf dem Weihnachtsmarkt, wollte das Riesenrad von unten fotografieren; doch das dauerte ewig, das Rad wollte und wollte nicht anhalten. Als das Auto  über den Markt raste, stand sie abseits des grausigen Geschehens. Erst zu Hause wurde ihr klar, dass sie bewahrt worden war. 
„Das Leben ist so zerbrechlich“ sagt die Fotografin.
Vergangenes Jahr Magdeburg im Advent. 
Dieses Jahr Sidney an Chanukka, dem jüdischen Lichterfest. 
Kann man da noch Weihnachten feiern? 
Heile Welt spielen?
Sicher nicht. Aber Weihnachten war nie „heile Welt.“
Es erzählt von brutalen Typen wie Herodes und von einem Paar, das im Stich gelassen wird – erst dann kommen die Hirten und Weisen, die den Opfern zur Seite stehen, still und unerkannt. 
Elisabeth Heinemann hat das Riesenrad an jenem Abend fotografiert: Winzige Lichter vor tiefschwarzer Nacht – in rot und grün, den Farben Magdeburgs; für sie ein Zeichen der Hoffnung – so wie die vier Kerzen auf dem Adventskranz, die acht Lichter auf dem Chanukka Leuchter.

Advent, Advent…

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt…
Schon als kleiner Junge konnte ich es kaum erwarten: die dicken roten Kerzen auf dem Adventskranz, den Adventskalender, der Duft nach frisch gebackenen Plätzchen.
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt – ein einziges, kleines Lichtlein.
Und draußen wird es jeden Tag dunkler, der Tiefpunkt ist noch lange nicht erreicht. Aber wir zünden eine kleine Kerze an – weil wir hoffen, nein weil wir wissen: 
Bald wird es wieder heller.
Der Göttinger Theologe Wolfang Reinbold sagt: 
„Der Advent ist nicht nur für die Christinnen und Christen da.“ 
Natürlich nicht. Selbst wenn wir Christen ihn „erfunden“ haben, das Copyright ist zum Glück längst abgelaufen. 
Wir feiern mit Menschen, die einer anderen oder gar keiner Religionsgemeinschaft angehören, die ganz anders leben als wir. Wir treffen uns auf dem Weihnachtsmarkt, beim lebendigen Adventskalender, im Familien- und Freundeskreis, bei Bratapfel und Punsch. Mir zeigt das: Glaube, Hoffnung und Liebe leben auch in dunklen Zeiten und über alle Grenzen hinweg.
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Es wärmt meine Seele, hält in mir die Hoffnung wach auf eine neue, menschliche Welt: 
erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier… 
Die Liebe beginnt ganz klein und oft im Finstern, wie im Stall von Bethlehem. 
Ich wünsche Ihnen eine Adventszeit voll Wärme und Licht.

Hauch ist der Mensch

Ich lese in der Bibel:
„Hauch ist der Mensch und sein Leben gleicht dem schwindenden Schatten.“
Mein Leben nur ein Hauch? 
Ein Schatten, der schwindet?
Wenn ich es mir recht überlege:
Ich weiß fast nichts über meinen Großvater. 
Er ist vor meiner Geburt gestorben. 
Und wer erinnert sich an mich in hundert Jahren? 
Manchmal fühlt sich das genauso an: 
Ja, mein Leben ist ein Hauch, mehr nicht. 
Doch dann sitze ich im Garten: 
Die Sonne bricht durch die Wolken, die Schatten schwinden, die Blumen sind in ein wundersames Licht getaucht.
Dann fühle ich mich getröstet von diesem uralten Wort:
„Hauch ist der Mensch und sein Leben gleicht dem schwindenden Schatten.“
Dann spüre ich diesen Hauch des Lebens, dann weiß ich: 
Du lebst! Jetzt! 
Du lebst aus dem Hauch, dem Geist Gottes. 
Und die Schatten? 
Sie werden der Morgenröte weichen.

Der alte Apfelbaum

In unserem Garten steht ein alter Apfelbaum.
Er hat viele Stürme hinter sich, ist schon arg zerrupft. 
Letzten Herbst hat der Wind einen großen Ast abgebrochen. 
Auch die Menschen sind nicht zimperlich mit ihm umgegangen. Er wurde oft beschnitten. Lange Jahre hieß es ja: „Du musst einen Hut durch seine Äste werfen können, dann trägt der Apfelbaum gut.“ 
Im Grunde ging es immer nur um den Ertrag.  
Aber jetzt kann unser alter Apfelbaum aussehen, wie er will – und wieviel er trägt ist uns auch egal.
Jetzt ist er nur noch ein alter Baum; seine knorrigen Äste wachsen in alle Richtungen. 
Auf mich wirkt er irgendwie frei; manchmal finde ich es sieht so aus, als ob er tanzt, bereit für alles, was das Leben ihm noch bescheren mag an Regen und Sonne, Stürmen und Frost.  
„Siehe, ich will euch tragen bis ins Alter“ lese ich in der Bibel.

„Straßenbild“

Im Anfang war das Wort.
So beginnt das Johannesevangelium. 
Mit dem Wort beginnt alles. Man kann es nicht zurücknehmen. Einmal ausgesprochen, bleibt es in der Welt, wird mächtig; so wie das Wort unseres Bundeskanzlers über das „Stadtbild“ und die Migranten. 
Er hat gesagt: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“  
Viele Menschen hat er damit verletzt, beleidigt und herabgewürdigt: Sie arbeiten hart, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, auf Baustellen und in der Paketzustellung.
Und im Stadtbild, auf der Straße, sollen sie ein Problem sein?
Nun hat der Bundeskanzler versucht, es zu erklären: Er meine ja nur die ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die, die sich nicht an unsere Regeln halten. 
Aber wie bitte will er die einen von den anderen im „Stadtbild“ unterscheiden?
Natürlich gibt es Probleme mit einigen jungen Männern, natürlich muss da gehandelt werden, aber ein finsteres Geraune über fremde Menschen im Stadtbild hilft niemandem, ganz im Gegenteil. 
Unser Bundeskanzler hat als Christ einen Eid geleistet, er ist dem Grundgesetz verpflichtet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes…seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft… benachteiligt oder bevorzugt werden“. 
Im Anfang war das Wort. 
Gerade unser Bundeskanzler sollte sein Wort sehr sorgfältig wählen, denn es wirkt, im Guten wie im Schlechten. 

Im Wartesaal…

Bruno ist mir im Laufe der Jahre ein väterlicher Freund geworden; ein kreativer und weiser Mann.
„Wie geht es Ihnen?“ frage ich an seinem 90. Geburtstag.
„Ach“ sagt er lächelnd, „ich bin ja jetzt im Wartesaal.“
Ich erschrecke: Im Wartesaal??? Das ist ja furchtbar! Ich will widersprechen, hole schon Luft –  und stocke: Bruno wirkt so zufrieden und ausgeglichen. Alt und lebenssatt, nennt das die Bibel.
Seltsam. Warum denke ich bei „Wartesaal“ sofort an einen zugigen, ungemütlichen Raum mit Holzbänken? 
Brunos Wartesaal ist ganz anders: seine Wohnung ist gemütlich. Er hat viele schöne Erinnerungen um sich gesammelt, ist umsorgt von seinen Kindern, seine Enkel und Urenkel besuchen ihn regelmäßig. 

Er wartet geduldig – und freut sich auf das, was kommen mag.

Ehrenpreis und Gänseblümchen

Ich liebe den Frühling. Unser Garten verändert sich mit jedem Tag. Es gibt so viel zu entdecken: Pflanzen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. 
Ehrenpreis und Spindelstrauch, Schneeball und Wolfsmilch, Weicher Frauenmantel und Hirschzungenfarn. 
Wer hat sich all diese wunderschönen Namen ausgedacht? Da schwingt so viel Phantasie, so viel Poesie mit, so viel Liebe zur Schöpfung. 
Besonders schön finde ich die „gefiederte Sockenblume.“  
Ihr wissenschaftlicher Name klingt ganz nüchtern: Epimedium Pinnatum. 
Oder Bellis Perennis. Das ist der lateinische Begriff für unser Gänseblümchen. 
So muss es im Garten Eden gewesen sein: Adam und Eva haben nicht nur den Tieren Namen gegeben, sondern auch den Pflanzen – und wenn eine Blume einen liebevollen Namen trägt, dann ist sie mir besonders nahe. 

Geduld?

Der Dichter Bertold Brecht schreibt:
„Ich sitze am Straßenrand. Schaue beim Reifenwechsel zu. 
Ich war nicht gern, wo ich herkomme.
Ich will nicht gern dahin, wo ich hinfahre.
Warum bin ich ungeduldig?“
Ja, warum?
An der Kasse im Supermarkt, im Stau auf der Autobahn, selbst beim Zahnarzt im Wartezimmer: immer bin ich ungeduldig
Aber manchmal gelingt es mir, manchmal wechsle ich den Blickwinkel:
Dann sehe ich in der Schlange an der Kasse einen Vater. Er schneidet seinem Kind Grimassen, die beiden lachen sich kaputt. 
Im Wartezimmer beim Zahnarzt finde ich in einer Zeitschrift einen tollen Bericht über Hummeln, die mit bunten Kugeln spielen. Ich freue mich noch den ganzen Tag drüber. 
„Warum bin ich so ungeduldig?“ fragt Bertold Brecht.
Weil ich meine, ich muss noch sein, wo ich gerade herkomme? 
Weil ich schon sein will, wo ich hin muss?
Und verpasse diesen Moment, dieses Geschenk in all seiner Fülle? 

Holocaust Gedenktag

Vor mir stand ein einziger, winziger Kinderschuh in einer großen Glasvitrine. 
Das war vor über 30 Jahren in Yad Vashem, der jüdischen Gedenkstätte an den Holocaust. 
Dieser Anblick verfolgt mich bis heute.
Heute ist der Holocaust-Gedenktag. Vor genau achtzig Jahren, am 27. Januar 1945, hat die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Über eine Million Menschen wurden dort ermordet. Den Befreiern bot sich ein Bild des Grauens. Sie fanden 7.000 Überlebende vor; krank, fast verhungert, am Ende ihrer Kräfte.
In meiner Schulzeit hatten wir [noch] einen Lehrer, der den Holocaust konsequent geleugnet hat. Wir haben ihm nicht geglaubt, aber wir haben ihm auch nicht energisch widersprochen. Dafür schäme ich mich bis heute. 
Wer mich beeindruckt sind Menschen wie Oskar Schindler und seine Frau. Das Unternehmerehepaar hat mit Hilfe einer Liste 1.000 Juden vor dem Tod gerettet. Die beiden haben viel riskiert: Ihr Vermögen, ihr Leben.
In Yad Vashem hat man für Oskar Schindler im „Wald der Gerechten unter den Völkern“ für ihn einen Baum gepflanzt. „Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“ (Mischna, Sanhedrin 4:5). Heißt es in der jüdischen Weisheitsliteratur.
Nein, wir dürfen nicht vergessen! Um der Opfer willen, um der Gerechten unter den Völkern willen und um unserer selbst willen.

Besinnliche Adventszeit…

Der Count Down läuft. Noch neun Tage bis Heiligabend. Wir haben noch keinen Baum, ich muss noch Geschenke besorgen, soll mich um die Süßigkeiten kümmern … Ist zu schaffen, darf nur nichts dazwischenkommen. Und dann gibt der Drucker seinen Geist auf. Na super, ausgerechnet jetzt! Ich muss die Predigt ausdrucken, Liederzettel für den Gottesdienst. Also ab zum Elektromarkt. Und da ist die Hölle los.
Ich hatte mir so fest vorgenommen: Dieses Jahr wird alles anders. Dieses Jahr wird der Advent ruhig und besinnlich. Du hast Anfang Dezember die Geschenke beisammen, du besorgst rechtzeitig einen schönen Baum, dann lästern die Kinder auch nicht wieder: „Papa, der hat dir wohl leid getan, den hätte sonst doch keiner mitgenommen.“ Dabei gab es keinen anderen mehr in unserer Größe.
Eine ruhige, besinnliche Adventszeit. Der große Traum. Aber wo kommt der eigentlich her? Aus der Weihnachtsgeschichte sicher nicht. „Es begab sich aber zu der Zeit…“ Maria und Josef finden keinen Raum in der Herberge. Das letzte, was man einer Schwangeren wünscht. Die Hirten werden nachts aufgeschreckt und rennen los „und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.“ Die haben nicht mal Geschenke dabei! Die Weisen aus dem Morgenland haben eine lange, beschwerliche Reise hinter sich und landen im Stall. 
Ruhig und besinnlich ist da erst mal gar nichts. Bis zu diesem Moment. Der Stern steht still. Sie kommen alle zur Ruhe, froh und dankbar für das Wunder des Lebens mitten im Wahnsinn der Welt. 
Auf diesen Moment warte ich und es wird ihn geben, an Heiligabend, in der Kirche beim Krippenspiel oder später unterm Weihnachtsbaum. Doch bis dahin: der Countdown läuft, auf geht´s!