Schlagwort: Ewigkeitssonntag

Ewigkeitssonntag

Andacht für die Braunschweiger Zeitung

Ewigkeitssonntag.
An den Gräbern gedenken wir der Menschen, die uns vorangegangen sind. In unseren Kirchen beten wir für die Verstorbenen des letzten Jahres.
Gibt es ein Danach?
Wenn ja, wie wird es sein?
Er ist neun Jahre alt, als seine Großmutter ganz plötzlich stirbt. Er weint bitterlich.
„Wo ist sie jetzt?“ fragt er seinen Vater. „Sie ist im Himmel,“ versucht der ihn zu trösten, „es geht ihr gut.“
„Wie kann es ihr gut gehen?“ schluchzt der Junge wütend, „Sie muss doch sehen, wie schlecht es uns geht!“
Der Vater schweigt erschrocken. Sein Sohn hat ja Recht.
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, werden uns die einfachen Antworten aus der Hand geschlagen. Alles ist wieder gut? So einfach kann es nicht sein. Dann hätte das, wofür ein Mensch gelebt und gelitten hat, keinen Sinn. Dann wäre sein Leiden, sein Leben nur eine Randnotiz auf dem Weg ins ewige Glück, alle Trauer nur ein Irrtum.
Das kann ich nicht glauben.
Mir hilft die Erzählung von der Auferstehung Jesu. Als der Auferstandene seinen Jüngern das erste Mal begegnet, zeigt er ihnen die Wundmale der Kreuzigung an den Händen und am Körper. Die Jünger erkennen Jesus an dem, was man ihm angetan hat.
Für mich ist das tröstlich: Ich bleibe mit meinen Lieben verbunden; in den schönen Erinnerungen, aber auch in der Trauer und im Leid. Es muss nicht einfach alles weg, wofür sie gelebt, worunter sie gelitten haben.
Ich selbst muss auch nicht verstecken, was mich verletzt und was mir weh tut. Meine Wunden, meine Trauer und mein Schmerz sind Teil meines Lebens. An ihnen bin ich zu erkennen.
Die Wunden werden geheilt, die Narben bleiben; doch im Lichte der Liebe Gottes werde ich sie anders sehen.
Das ist meine Hoffnung.
Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini

Vom Schleppen und vom Schicksal

Predigt am Ewigkeitssonntag
In Franken in der Nähe von Volkach führt mitten durch die Weinberge der sogenannte „Bildstockweg.“
Bildstöcke sind sehr alte Denkmäler aus Stein, manchmal auch aus Holz.
Mitten in der wunderschönen Landschaft mit Blick auf den Main stehen sie am Wegesrand als Orte der Meditation und des Gebetes für die Weinbauern. Sie laden ein zu einem Moment der Ruhe mitten in der harten Arbeit.
Auf all diesen Bildstöcken sind Szenen aus dem Leiden Jesu dargestellt: die Kreuzigung, die Abnahme vom Kreuz, Maria mit ihrem toten Sohn im Arm.
Diese Bildstöcke erinnern an etwas, das wir allzu schnell vergessen:
Das Leiden gehört zum Leben.
Unser Glaube geht noch weiter: das Leiden gehört zur Geschichte Gottes mit uns Menschen. Es ist kein Webfehler, den wir nur endlich beseitigen müssen, damit sich unser Leben endlich richtig und glücklich anfühlt.
Sicher, es ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen, das Leiden durch Ungerechtigkeit, Lieblosigkeit, Krankheit und Krieg, zu bekämpfen so wie Jesus das getan hat.
Aber wir müssen auch aushalten, ertragen. Wir müssen mitgehen mit denen, die zu tragen haben. Manchmal einfach nur da sein. So heute, am Ewigkeitssonntag, wenn vielen von uns schwer ums Herz wird.
Die Bildstöcke in den Weinbergen erinnern daran.
Auf einem dieser Bildstöcke ist zu sehen, wie Christus sein Kreuz nach Golgatha trägt. Er ist unter der Last gestürzt und stemmt sich gerade wieder hoch, die rechte Hand auf einen Stein gestützt.
Es ist das Lieblingsmotiv der Weinbauern. Sie nennen ihn den Kreuzschlepper. Sie sagen: „Er ist wie wir. Muss schleppen.“
Der Kreuzschlepper. Ja, er ist ein Bild für das Leben: Wie viele schleppen sich ab mit dem, was ihnen auferlegt ist.
Jesus schleppt sein Kreuz nach Golgatha.
Und ich frage mich: Warum tut er das?
Warum rafft er sich wieder auf? Er weiß doch, was komm! Nichts wird besser! Sie werden ihn ans Kreuz nageln. Er wird unerträgliche Schmerzen leiden und zuletzt ersticken. Das ist die Todesursache bei der Kreuzigung.
Warum schleppst du dein Kreuz weiter?
Warum bleibst du nicht einfach liegen?
Weil du musst.
Du hast keine Wahl.
Du wirst nicht gefragt.
Du musst.
Musst leben.
Musst kämpfen.
Bis zum bitteren Ende.
Wenn wir einen lieben Menschen verlieren, ist es ja nicht anders.
Wir schleppen. Wir schleppen seine Krankheit mit. Wir schleppen, wenn das Alter zur Last wird. Schleppen den Schmerz. Schleppen an der Last der Trauer. Schleppen die Einsamkeit.
Jesus hatte ein reiches, erfülltes, gesegnetes Leben. Er war immer für andere da, wenn er gebraucht wurde.
Und jetzt, in seiner letzten Stunde, findet sich jemand, der tragen hilft.
Ein Fremder, Simon aus Kyrene. Der will gar nicht, sie müssen ihn zwingen.
So geht es uns ja manchmal auch, wenn wir einen Menschen auf seinem letzten Weg begleiten. Wir haben Angst, wir wollen nicht.
Doch unsere Motivation ist nicht wichtig.
Wir müssen. Sind da. Schleppen mit.
Manchmal helfen wir wie Veronica. Sie wischt Jesus mit ihrem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht.
Ein kurzer Moment. Eine Geste. Und das Leiden geht weiter. Doch macht das ihr Tun sinnlos?
Der Kreuzschlepper.
Er muss.
Warum?
Was ist der Sinn des Ganzen?
*
Dieser Frage möchte ich mich mit einer Filmfigur nähern:
Forrest Gump.
Er ist der Titelheld des gleichnamigen Films mit Tom Hanks in der Hauptrolle.
Forrest Gump ist fast debil. Er hat einen Intelligenzquotienten von 75. Aber er ist extrem erfolgreich. Was er anfasst, gelingt. Am Ende des Films ist er sehr vermögend. Doch Geld spielt für ihn keine Rolle. Er mäht den Rasen in seiner Heimatgemeinde und ist glücklich und zufrieden.
Jenny, seine Ehefrau, erkrankt schwer. Forrest pflegt sie rührend.
Am Ende des Films steht Forrest an ihrem Grab
Er hat sie an ihrem Lieblingsplatz begraben: unter einer uralten Eiche mit weitem Blick in die Landschaft von Alabama.
Er erzählt von ihrem kleinen Sohn, wie gut er sich macht.
Er weint. Schließlich sagt er: „Ich weiß nicht ob Mama Recht hatte, oder ob Leutnant Dan Recht hatte, ich weiß nicht… ob jeder von uns sein Schicksal hat oder nur zufällig dahin treibt wie ein Blatt im Wind. Aber ich denke, es stimmt vielleicht beides. Vielleicht passiert ja beides zur selben Zeit. Du fehlst mir so, Jenny.“
„Ich sehe einen neuen Himmel und eine neue Erde.“
Ist es das?
Eine Welt, in der ich nicht nur zu den Verstorbenen reden kann, sondern mit ihnen? Eine Welt, in der wir wieder vereint sind?
Eine Welt, in der wir Antworten bekommen auf die Fragen, die uns umtreiben und quälen?
Auf Fragen wie diese: „Wer bin ich? Zu was ist mein Leben gut, hat es einen Sinn?
Ist es Schicksal?
Oder bin ich ein Blatt im Wind?
Ein Nanoteilchen im großen Plan der Evolution? Erfülle meine Aufgabe und verschwinde wieder?
Forrest Gump hat keinen großen Verstand. Aber ein großes Herz.
Er beantwortet diese Fragen mit seinem Leben.
Er nimmt das Leben wie ein Blatt im Wind. Bei ihm ist es fast immer ein Aufwind.
Sein Freund legt Forrest Geld an. „Irgendwas mit Obst“ sagt Forrest. Es sind Apple Aktien.
Der Freund schreibt ihm: „Um Geld musst du dir nie wieder Sorgen machen.“
„Prima!“ denkt Forrest, „eine Sorge weniger.“
Forrest Gump macht sich scheinbar keine Gedanken.
Doch wenn er gebraucht wird, ist er da.
Er kommt nicht mal auf die Idee, die beste pflegerische Hilfe zu kaufen, die es gibt. Er sitzt selbstverständlich selbst an ihrem Bett. Er ist es auch, der seinen kleinen Sohn an seinem ersten Schultag zum Schulbus bringt.
Weil er muss. Und weil er will.
Schicksal und Blatt im Wind.
Ja, es ist wohl beides gleichzeitig. Da beginnt für mich der neue Himmel und die neue Erde: Mensch sein in guten wie in schlechten Zeiten. Miteinander lachen und weinen. Aufhören, seine Trauer und seinen Schmerz zu verstecken.
*
Jesus schleppt sein Kreuz. Er lebt. Bis zuletzt.
Michael Knobel, der frühere Leiter unseres Hospizes, hat immer gesagt:
„Im Hospiz wird nicht gestorben. Sterben ist nur ein kurzer Moment. Im Hospiz wird gelebt. Bis zuletzt.“
So ist es auch bei Jesus.
Er lebt. Bis zum Schluss. Er sorgt noch dafür, dass sein Lieblingsjünger in Zukunft für Maria da ist – und sie für ihn.
Und er wird wiederkommen. Seine Jünger werden ihn nicht als strahlenden Helden sehen. Sie werden ihn an seinen Wunden erkennen – an dem, was das Leben, was das Leiden ihm angetan hat.
Doch alles, sein ganzes Leben, ist aufgehoben in der Liebe Gottes.
Möge er unseren Glauben stärken: den Glauben, dass es die Liebe und das Licht sind, die uns erwarten. Uns und unsere Lieben.
Amen.

Schicksal oder Blatt im Wind?

„Ich weiß nicht ob Mama Recht hatte,
oder ob Leutnant Dan Recht hatte,
ich weiß nicht…
ob jeder von uns sein Schicksal hat
oder nur zufällig dahin treibt wie ein Blatt im Wind.
Aber ich denke, es stimmt vielleicht beides.
Vielleicht passiert ja beides zur selben Zeit.
Du fehlst mir so, Jenny.“

Forrest Gump am Grab seiner Frau

Leben mit den Toten

„Kultur entsteht, wenn sich die Lebenden ihrer Toten erinnern. Die Lebenden unterstehen der Hoheit der Toten. Sie sind die Autoren unserer Welt, die wir von ihnen erben.“

(Robert Harrison „Die Herrschaft des Todes“)

Menschliches Leben ist nur möglich mit den Toten.
Ohne sie geht gar nichts.
Was wäre ich geworden, ohne meine Mutter, die tagelang mit mir auf dem Sofa gelegen hat, als ich kleines Kind so schwer Asthma hatte? Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß das nur aus Erzählungen.
Was wäre mein Glaube ohne Paulus?
Was wäre ich ohne den Erbauer meines Hauses, der schon so lange nicht mehr auf der Erde ist?
Es sind ja viel mehr als Spuren, viel mehr als Erinnerungen, die die Toten hinterlassen. Und wenn wir einzelne, große Figuren nennen, dann meinen wir immer eine ganze Generation. Die Steine an St. Martini. Niemand kennt mehr die Steinmetze, die sie behauen und eingesetzt haben. Aber ihre Steinmetz Zeichen sind noch da. Und ihre Steine sowieso. Was wäre das Stadtbild ohne die Kirchen – was wäre mein Glaube? So ist das. Auch wenn ich die Theologie der Steine manchmal verfluche, auch wenn ich unter ihr stöhne. Es nutzt ja nichts.
Menschliches Leben ist Leben mit den Toten. Mit ihrem Fluch und mit ihrem Segen. Ohne sie ist nichts. Wir begraben tatsächlich nur die äußere Hülle.