Schlagwort: Nächstenliebe

Gestürzt

Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt. Mir ist nicht viel passiert, zum Glück. Aber ich war für einen Moment benommen – und ich war so froh, dass mein Sohn Johannes an meiner Seite war. Er hat geduldig mit mir gewartet, bis ich mich von dem Schock erholt hatte.
*
Drei Tage später.
Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Ich hab es eilig. Da sehe ich schon von weitem: Ein Fahrradfahrer ist gestürzt. Ich halte an. Eine Frau hält ihm die Hand, ihr Mann sagt: „Der Krankenwagen muss jeden Moment hier sein“ Der junge Mann hat eine blutende Platzwunde am Kopf. Da erkenne ich ihn: Es ist Cornelius, ein ehemaliger Konfirmand. Er erkennt mich auch, lächelt gequält: „Hallo Friedhelm! Alles okay!“ 
„Das ist gut!“ sage ich. 
Doch ich muss weiter. Der Junge ist ja versorgt, denke ich. Ich kann hier ja doch nichts mehr tun. Ich sage noch kurz: „Alles Gute Cornelius!“ und fahre weiter.
Das war wirklich keine Heldentat. Als ob es nur darum ginge, dass jemand versorgt ist! Ich war der einzige, den er kannte! Ich hätte ihm beistehen müssen. Und dass, nachdem ich gerade dasselbe durchgemacht habe…
Hektik, Stress und Zeitdruck machen hart und unbarmherzig. Was soll aus uns, was soll aus mir werden, wenn ich das nicht in den Griff bekomme?
Ich habe Cornelius noch am selben Abend geschrieben. Er war wieder zu Hause. Es geht ihm gut. 
Gott sei Dank! Aber so was soll mir nie wieder passieren… 

Die Postkarte

O Mann, er hat ganz vergessen, sich bei seiner Patentante für das Geburtstagsgeschenk zu bedanken. Anrufen traut er sich nicht. Er ist vierzehn, Reden ist nicht so sein Ding. Eine WhatsApp wär auch ein bisschen schlapp. Was soll er machen?
„Schreib ihr doch eine Postkarte!“ schlage ich vor. „Da freut sie sich bestimmt. Und so furchtbar viel schreiben musst du auch nicht.“ 
Er ist begeistert, sucht eine Karte aus. Vorne drauf steht in großen bunten Buchstaben „Danke!“ 
Er nimmt den Stift in die Hand, doch dann zögert er: „Wo muss denn hier die Adresse hin?“ Ich erkläre es ihm: „Ins rechte Feld, auf die Linien.“ 
„Und was kommt zuerst? Die Straße?“
Wie rasend schnell sich unsere Welt verändert. Er hat noch nie in seinem Leben eine Postkarte geschrieben!
Ich finde auch nur noch selten eine Karte im Briefkasten. Und schreiben tue ich auch kaum noch welche. WhatsApp ist praktischer und geht schneller.
Keine Karten mehr im Briefkasten.
Postkarten schreiben, gemeinsam singen, ja, auch mal in die Kirche gehen. So viele gute alte Traditionen verschwinden. Das macht unsicher, das tut uns nicht gut. 
Aber: Was selten ist, bekommt auch wieder einen besonderen Wert. Die Patentante hat sich sehr über die Postkarte gefreut. 

Was ich am meisten vermisse

Meine Enkeltochter Ada ist vier Jahre alt. Sie weiß schon sehr genau Bescheid über „Abstandsregeln.“ Sie sagt: „Corona ist ein großer runder Ball.“ Diese Zeit geht auch an unseren Jüngsten nicht spurlos vorbei.
Was wird Ada in Erinnerung bleiben? 
Dass alle Menschen mit Masken rumgelaufen sind, daran wird sie sich später sicher erinnern. 
Was werde ich ihr später erzählen über diese Zeit? Wenn sie mich irgendwann fragt: 
„Was hast du am meisten vermisst?“
Dann werde ich ihr sagen:
„Die Menschen!
Ich habe Dich und Deine Geschwister vermisst, meine Familie, meine Freundinnen und Freunde. Ohne Euch kann ich nicht sein!“
Sicher, wir schreiben Emails, wir telefonieren, skypen, schicken SMS und kleine Videos – das ist schön, aber das ersetzt niemals den persönlichen Kontakt! 
Sie sagen Euch: „Die neue Welt ist digital.“ Lasst Euch das nicht einreden. Die neue Welt ist menschlich, oder sie ist nichts. Die Digitalisierung ist ein Werkzeug, nichts weiter.“
Wenn ich aus dieser Zeit etwas an die nächste Generation weitergeben möchte, dann dies: 
Was ich am meisten brauche sind die Menschen. 
Ich brauche den kurzen Schnack auf dem Markt, die Menschen in der Kneipe, die Stimmung im Stadion. 
Im Moment bleibe ich übrigens öfters stehen, wenn ich unterwegs jemanden treffe. Wir nehmen uns Zeit für ein kurzes Schwätzchen. Wir sind alle ausgehungert nach persönlichen Gesprächen. 
Ja, das wichtigste in meinem Leben sind die Menschen. Ich kann es kaum erwarten, sie alle wieder zu treffen.
In der Bibel heißt es: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ 
Ich würde heute noch einen Schritt weitergehen, ich würde sagen: 
„Du liebst deinen Nächsten wie dich selbst. Er ist ein Teil von dir. 
Vergiss das nie wieder.“ 

Mover

Wir brauchen einen Mover!
Der riesige Wohnwagen rollt wie von Geisterhand geführt ganz allein über den Campingplatz. Er biegt ab, fährt auf seinen Platz, schaukelt noch einmal hin und her und dann steht er genau da, wo er soll. Perfekt!
Der Wohnwagen hat einen „Mover.“ Das ist ein kleiner Elektromotor, mit dem man den Wagen ganz einfach über kurze Strecken bewegen kann. Man braucht nur eine Fernbedienung. Keiner muss mehr schieben.
Wir sind im Sommer auch gern mit unserem Wohnwagen unterwegs. Wir lieben es, von einem Ort zum andern zu zuckeln. Doch so langsam haben wir ein Problem: unser Wohnwagen ist in die Jahre gekommen – und wir auch. Wenn wir irgendwo ankommen, müssen wir das schwere Teil erst mal auf seinen Platz schieben. Das fällt uns nicht mehr so leicht.
Wir brauchen auch einen Mover! Ich muss dann auch keinen mehr fragen, ob er vielleicht mal mit anfasst.
Doch Stopp!
Ob in der Bretagne oder am Mittelmeer, an der Nordsee oder in den Alpen: bis jetzt waren immer freundliche Menschen da, die uns beim Schieben geholfen haben. Und ich selbst fasse auch gern mit an. Dabei habe ich schon viele nette Menschen kennengelernt.
Seltsam: Wir schaffen uns immer mehr Geräte an, damit wir bloß keinen um Hilfe bitten müssen. Wir wollen unabhängig sein. Dabei geht es im Leben doch genau darum: dass wir füreinander da sind das macht uns glücklich.
Nein, ich brauche keinen Mover.
Ich helfe gern – und die anderen auch.

 

Einmal „Nein“ braucht dreimal „Ja“

 

 

Es klingelt an der Haustür. Vor mir steht eine junge Frau in Feuerwehruniform, eine ehemalige Konfirmandin. Sie ist schon seit Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr in Rüningen. „Hallo!“ sagt sie und lächelt mich an, „Ich wollte dir nur schnell Bescheid sagen: Wir räumen gerade den Baum weg, den der Sturm hinter der Kirche zerlegt hat.“ Und schon höre ich die Kettensäge aufheulen. Keine Stunde später ist der Weg wieder frei.
Vor gut einer Woche ist „Xavier“ über uns weggefegt ist. Was für ein Chaos! Der Hagenmarkt ein Ort der Verwüstung, überall in der Stadt Bäume auf den Straßen. Auch die wunderschöne Trauerweide an der Martinikirche hat der Sturm entwurzelt. Das ist erst zehn Tage her, doch heute sieht man schon so gut wie nichts mehr davon.
Die Feuerwehr, Alba und viele Gartenbaubetriebe haben ganze Arbeit geleistet.
Eigentlich ein Grund zur Dankbarkeit. Doch so sind wir nicht. Wir werden höchstens ärgerlich, wenn es nicht schnell genug geht: „Was denn, die Züge fahren immer noch nicht wieder planmäßig? Typisch!“ Was nicht klappt, sticht sofort ins Auge. Das Schöne halten wir für normal.
Ein guter Freund hat einmal gesagt: Wenn Du einmal „Nein“ sagst, musst du dreimal „Ja“ sagen, um das „Nein“ auszugleichen.
Wie viele Menschen demotivieren wir durch unser ständiges „Nein!“
Sie geben alles. Doch es reicht nicht. Es könnte höher, schneller besser sein. Es ist nie gut genug.
Dabei beginnt jeder Tag mit dem Ja zu mir.
Ja, die Welt ist immer noch ein schöner, ein hilfreicher Ort. Es gibt so viele Menschen, die einfach für mich da sind.
Dafür bin ich dankbar.