Schlagwort: Zeit

Geduld?

Der Dichter Bertold Brecht schreibt:
„Ich sitze am Straßenrand. Schaue beim Reifenwechsel zu. 
Ich war nicht gern, wo ich herkomme.
Ich will nicht gern dahin, wo ich hinfahre.
Warum bin ich ungeduldig?“
Ja, warum?
An der Kasse im Supermarkt, im Stau auf der Autobahn, selbst beim Zahnarzt im Wartezimmer: immer bin ich ungeduldig
Aber manchmal gelingt es mir, manchmal wechsle ich den Blickwinkel:
Dann sehe ich in der Schlange an der Kasse einen Vater. Er schneidet seinem Kind Grimassen, die beiden lachen sich kaputt. 
Im Wartezimmer beim Zahnarzt finde ich in einer Zeitschrift einen tollen Bericht über Hummeln, die mit bunten Kugeln spielen. Ich freue mich noch den ganzen Tag drüber. 
„Warum bin ich so ungeduldig?“ fragt Bertold Brecht.
Weil ich meine, ich muss noch sein, wo ich gerade herkomme? 
Weil ich schon sein will, wo ich hin muss?
Und verpasse diesen Moment, dieses Geschenk in all seiner Fülle? 

Vom Sorgen

„Wie der klettern kann Opa!“
Ich bin mit Ada, meiner Enkeltochter, im Zoo in Berlin. 
Gleich hinter dem Eingang steht ein riesiger Felsen. Dort leben die Steinböcke. Ada ist sehr beeindruckt, vor allem von einen großen Tier mit riesigen Hörnern:
Ihre Augen strahlen, sie ist wie gebannt, will gar nicht weiter. 
Nach ein paar Minuten werde ich ungeduldig: 
„Komm Ada! Wir müssen weiter, sonst schaffen wir es nicht! Es gibt noch so viele spannende Tiere zu sehen!“ 
Dann habe ich mich über mich selbst geärgert: „Du arbeitest den Zoobesuch ab wie eine To- do-Liste:
Du stehst vor den Eisbären, denkst ans Affenhaus – da müssen wir unbedingt auch noch hin! Bei den Affen musst du schnell weiter zu den Elefanten – und den Tiger nicht vergessen!“  – aber der hat sich versteckt…
So geht es mir oft: Ich bin nicht wirklich bei der Sache, denke nur darüber nach, was wohl als nächstes kommt..
In der Bibel steht: 
„Alles hat seine Zeit.“ Stimmt wohl. Gut, wenn du erkennst, was gerade dran ist – und es dankbar annehmen.
Wir hatten dann doch einen schönen Tag – am schönsten war es bei den Pinguinen. 
Ich hätte ihnen stundenlang zusehen können.

Tempo, Tempo

Wir kriegen jetzt schnelles Internet, Glasfaserkabel.
Zuerst habe ich gedacht: „Super! Da kannst du Zeit sparen!“ 
Wenn etwas schneller geht, finde ich das immer erst mal gut.
Aber ich werde jetzt den Tatort nicht in doppelter Geschwindigkeit sehen, bloß weil ich „schnelles Internet“ habe. Meine Emails kann ich auch nicht schneller schreiben, das braucht seine Zeit – und wenn sie eine Zehntelsekunde schneller ankommen, na ja…
„Immer schneller“ führt bei mir auch nicht dazu, dass ich mehr Zeit habe, ganz im Gegenteil: Ich werde immer ungeduldiger. 
Der ICE braucht von Braunschweig nach Berlin nur noch 1 ½ Stunden. Phantastisch! Aber wehe, er kommt zehn Minuten zu spät…
Ich stehe im Baumarkt an der Kasse und vor mir hat einer unendlich viel Kleinkram – du meine Güte, wird der denn nie fertig?
Geschwindigkeit ist kein Wert an sich und ich kann auch keine Zeit „sparen.“ 
„Alles hat seine Zeit“ steht in der Bibel (Prediger 3) Da wird ganz viel aufgezählt: Pflanzen und ernten hat seine Zeit, abbrechen und bauen hat seine Zeit, weinen und lachen… 
Und am Ende heißt es: 
Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit. 
Er hat auch die Ewigkeit in dein Herz gelegt… 
Und manchmal, ja manchmal kann ich sie spüren, die Ewigkeit: 
Wenn ich die Zeit einfach Zeit sein lasse…

Zeitmanagement

Wie kann ich meinen Tag am besten gestalten?
Also wie kann ich meine Zeit so einteilen, dass ich möglichst viel davon habe? 
Auf einer Fortbildung zum Thema Zeitmanagement hatten wir den Personalchef einer großen Firma eingeladen. Er trug Verantwortung für über 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir waren sehr gespannt, wie der das wohl gemanagt kriegt. Meine erste Frage lautete:
„Wie planen Sie Ihren Tag?“
Er runzelte die Stirn: „Was meinen Sie damit?“
„Na ja, was sind Ihre Prioritäten, wie teilen Sie sich Ihren Tag ein?“
„Den Tag planen, einteilen?“ meinte er, „Wie soll das denn gehen?
Wenn ich morgens ins Büro komme, weiß ich doch noch gar nicht, was auf mich zukommt.“
Diese Antwort hat mich total verblüfft. Ich dachte immer, Topmanager sind super strukturiert, haben ihr Leben im Griff. Doch dieser Mann lebt mit dem Chaos – wie eine Mutter mit ihrem Kleinkind: Du weißt nie, was kommt.
Ja, es ist wohl so: Die Frage: „Was will ich tun, was erwarte ich vom Leben?“ ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Frage ist mindestens genauso wichtig: 
„Was soll ich tun? Was erwartet das Leben von mir?“ 
Und was wird dann aus meinen Plänen? 
Ein kluger Mensch hat mal gesagt: 
„Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.“

Stöpsel im Ohr

Ich fahre mit dem E-bike durch den Park. Neben mir schwebt eine junge Frau auf ihrem E-Scooter. Wir sind ungefähr gleich schnell. Dann trennen sich unsere Wege. Zwei Minuten später fährt sie wieder neben mir.  „Oh,“ sage ich zu ihr und lächle: „da sind Sie ja wieder!“ Doch sie reagiert nicht. 
„Au!“ denke ich, „bist du alter Mann ihr zu nahe getreten?“ und lasse mich zurückfallen. 
Da sehe ich: Falsch! Die junge Frau hat mich gar nicht gehört. Sie hat Stöpsel in den Ohren.
Im Geschäft und auf der Straße, beim Fahrradfahren und Joggen: überall haben Menschen Stöpsel im Ohr. 
Irgendwo anders scheint es immer interessanter zu sein als da, wo wir gerade sind 
Klar, ich habe auch Kopfhörer.
Ich höre gern Podcasts und auch Musik – aber beim Abwaschen und nicht beim Fahrradfahren.
Alles hat seine Zeit.
Ist die Musik wirklich schöner als ein Gespräch mit meiner Frau beim Bohnen schnippeln fürs Mittagessen?
Ich glaube: zu oft Stöpsel im Ohr macht einsam und unempfindlich für die Schönheit der Welt. 
Ich kann nur lieben, was ich auch wahrnehme. 
Alles hat seine Zeit…

Gestürzt

Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt. Mir ist nicht viel passiert, zum Glück. Aber ich war für einen Moment benommen – und ich war so froh, dass mein Sohn Johannes an meiner Seite war. Er hat geduldig mit mir gewartet, bis ich mich von dem Schock erholt hatte.
*
Drei Tage später.
Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Ich hab es eilig. Da sehe ich schon von weitem: Ein Fahrradfahrer ist gestürzt. Ich halte an. Eine Frau hält ihm die Hand, ihr Mann sagt: „Der Krankenwagen muss jeden Moment hier sein“ Der junge Mann hat eine blutende Platzwunde am Kopf. Da erkenne ich ihn: Es ist Cornelius, ein ehemaliger Konfirmand. Er erkennt mich auch, lächelt gequält: „Hallo Friedhelm! Alles okay!“ 
„Das ist gut!“ sage ich. 
Doch ich muss weiter. Der Junge ist ja versorgt, denke ich. Ich kann hier ja doch nichts mehr tun. Ich sage noch kurz: „Alles Gute Cornelius!“ und fahre weiter.
Das war wirklich keine Heldentat. Als ob es nur darum ginge, dass jemand versorgt ist! Ich war der einzige, den er kannte! Ich hätte ihm beistehen müssen. Und dass, nachdem ich gerade dasselbe durchgemacht habe…
Hektik, Stress und Zeitdruck machen hart und unbarmherzig. Was soll aus uns, was soll aus mir werden, wenn ich das nicht in den Griff bekomme?
Ich habe Cornelius noch am selben Abend geschrieben. Er war wieder zu Hause. Es geht ihm gut. 
Gott sei Dank! Aber so was soll mir nie wieder passieren… 

Die Zeit zurückdrehen

Zurück in die Gegenwart 

Bei uns im Esszimmer steht eine wunderschöne alte Uhr. Sie ist ein Erbstück aus der Familie meiner Frau. Jeden Sonntagmorgen ziehe ich sie auf. Und dann ist sie nicht mehr zu halten, dann rennt sie los. Die ersten drei Tage der Woche ist sie ihrer Zeit weit voraus, mindestens zwei, drei Minuten pro Tag. Ich drehe ihren Minutenzeiger immer wieder zurück. So. Jetzt stimmt ihre Zeit wieder. Die Uhr ist genau in der Gegenwart, im Hier und Jetzt.
Ach, wenn das bei mir doch auch so einfach ginge. Es gibt Tage, da bin ich wie aufgezogen, meine Gedanken sind wie Trolle. Sie jagen mich weit in die Zukunft. Schon beim Aufwachen schreien sie mich an: „Los! Sieh zu, dass du hochkommst! Es gibt viel zu tun!“ An diesen Tagen bin ich ein Getriebener, denke nur darüber nach, was ich noch alles zu tun habe und wie ich das bloß schaffen soll. Ich bin dann nie ganz bei der Sache, nie ganz bei dem, was ich gerade tue.
Dabei sind genau das die schönsten Momente in meinem Leben: Wenn jemand den Zeiger zurückdreht, mich in die Gegenwart holt, wenn ich die Zeit vergesse.
Ich sehe mit meiner Enkeltochter zu, wie sie mit ihrem neuen Bauernhof spielt. Sie ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ich genieße die Sonne bei einem langen Spaziergang mit meiner Frau. Ich vergesse die Zeit beim Gespräch mit einem Freund. Nie spüre ich das Leben so intensiv wie in diesen Momenten. 
Ich drehe den Zeiger an unserer alten Uhr zurück, hole tief Luft und denke: „So. Jetzt sind wir beide genau da, wo wir hingehören: in der Gegenwart, in diesem Moment.“

Gott, Geheimnis des Lebens, ich glaube, dass die Gegenwart, dass genau dieser Moment     ein Geschenk ist. 
Ich glaube, hilf meinem Unglauben…

Jetzt!

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat leidenschaftlich gern telefoniert. Das Gespräch mit einem Freund konnte schon mal zwei, drei Stunden dauern. Der hatte es ja noch gut. Zu seiner Zeit gab nur ein einziges Telefon im Haus. Wenn er gesprochen hat, war halt besetzt. Niemand hat gestört.
Bei mir ist das ganz anders. Ich spreche im Festnetz – da brummt das Handy. Was machst du jetzt? Rangehen oder weiter telefonieren? Ich schaue auf das Display. O Mann, es ist der Handwerker. Ich warte schon ewig auf seinen Rückruf. Egal, ich gehe jetzt nicht ran. Aber aus meinem Gespräch bin ich erst mal raus. Muss mich wieder ganz neu konzentrieren.
Eine andere Situation: Wir sind mitten im Taufgespräch. Da macht es in der Sakkotasche des stolzen Papas „Ping.“ Aha. Eine Kurznachricht. Von wem mag sie sein? Er schaut natürlich nicht gleich nach. Aber ich spüre deutlich: er ist nicht mehr so ganz bei der Sache. Es dauert eine Weile, bis er wieder im Gespräch ist.
Dietrich Bonhoeffer hat vor knapp 90 Jahren gesagt: Du kannst Gott nur in der Gegenwart erfahren. Wer aus der Gegenwart flieht, der flieht vor Gott. Wenn ich nicht hier bin, in diesem Moment, dann verpasse ich das Leben dann verpasse ich die Liebe – dann verpasse ich Gott.

Hier zu sein. In diesem Moment. Genau das fällt mir immer schwerer.

Dabei ist es das einzige, was ich habe: diesen Moment. Und es ist so leicht, ihn zu verpassen: mal eben die Mails checken, die neuesten Nachrichten lesen, das neue Video vom Enkelkind ansehen. Was um mich herum geschieht, verliert ganz schnell an Bedeutung.

Ich habe all diese Ping und Peng Töne bei meinem Smartphone abgeschaltet. Wenn ich in einem Gespräch bin, stelle ich das Teil in den Flugmodus, dann kann wirklich keiner mehr stören.

Ja, das Smartphone ist praktisch. Aber ich muss noch eine Menge lernen, damit ich das Leben nicht verpasse.

12 Minuten geschenkt

Ich habe bei der Autorin Susanne Niemeyer einen Adventskalender bestellt. Sie schickt mir jetzt jeden morgen eine Email, ein„freudenwort.“
Heute schreibt Susanne:

Am Nachmittag tut sich plötzlich eine Lücke auf. Passanten schauen neugierig hinein. „Was ist da?“ „Nichts.“ Enttäuscht gehen sie weiter.
Warum eigentlich?

Wenn dir heute eine Stunde geschenkt würde, was würdest du tun?
Und was, wenn es 12 Minuten wären?

 

Ich fühle mich ertappt. Sie kommt gern mal zu spät. Ruft aber nie an. Hat ihr Handy meist nicht mal dabei. Und ich werde dann stinksauer: “ Wenn ich wüsste, wann du kommst – in drei, zwölf oder dreißig Minuten –  dann könnte ich ja was damit anfangen. Aber so? Verlorene Zeit!
Doch wenn die Lücke ein Geschenk ist? Ich könnte ein schönes Lied hören, das mich zu Tränen rührt (ist mir schon passiert). Aus dem Fenster gucken, was die Vögel am Futterhaus so treiben. Jemandem eine richtig nette SMS schreiben. Träumen. Vom Strand auf Sylt. Und von den Bergen in Südtirol.

Himmlische Ruhe

Ich sitze frühmorgens im Garten.
Himmlische Ruhe.
Nicht mal die Vögel singen. Die Schwalben sind schon wieder gen Süden unterwegs.
Und die Amseln? Ab und zu sitzt eine unterm Baum, grau und zerrupft. Sie pickt an einem heruntergefallenen Apfel. Sonst hört und sieht man sie nicht.
Fast alle erwachsenen Amseln sind jetzt in der Mauser. Ihre Federn haben sich abgenutzt, müssen ersetzt werden. Sie brauchen jetzt Ruhe, können nicht hoch hinaus.

*

Was bist du für ein komischer Vogel!
Glaubst, du brauchst das nicht: Ruhe für die Seele. Doch auch ihre Kräfte nutzen sich ab. Du kannst nicht immer hoch hinaus, brauchst Zeiten der Erneuerung; bist dann verletzlich, musst neue Kräfte sammeln.
Zeit für dich.
Himmlische Ruhe.