Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt. Mir ist nicht viel passiert, zum Glück. Aber ich war für einen Moment benommen – und ich war so froh, dass mein Sohn Johannes an meiner Seite war. Er hat geduldig mit mir gewartet, bis ich mich von dem Schock erholt hatte.
*
Drei Tage später.
Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Ich hab es eilig. Da sehe ich schon von weitem: Ein Fahrradfahrer ist gestürzt. Ich halte an. Eine Frau hält ihm die Hand, ihr Mann sagt: „Der Krankenwagen muss jeden Moment hier sein“ Der junge Mann hat eine blutende Platzwunde am Kopf. Da erkenne ich ihn: Es ist Cornelius, ein ehemaliger Konfirmand. Er erkennt mich auch, lächelt gequält: „Hallo Friedhelm! Alles okay!“
„Das ist gut!“ sage ich.
Doch ich muss weiter. Der Junge ist ja versorgt, denke ich. Ich kann hier ja doch nichts mehr tun. Ich sage noch kurz: „Alles Gute Cornelius!“ und fahre weiter.
Das war wirklich keine Heldentat. Als ob es nur darum ginge, dass jemand versorgt ist! Ich war der einzige, den er kannte! Ich hätte ihm beistehen müssen. Und dass, nachdem ich gerade dasselbe durchgemacht habe…
Hektik, Stress und Zeitdruck machen hart und unbarmherzig. Was soll aus uns, was soll aus mir werden, wenn ich das nicht in den Griff bekomme?
Ich habe Cornelius noch am selben Abend geschrieben. Er war wieder zu Hause. Es geht ihm gut.
Gott sei Dank! Aber so was soll mir nie wieder passieren…
Schlagwort: Zeit
Die Zeit zurückdrehen
Zurück in die Gegenwart
Bei uns im Esszimmer steht eine wunderschöne alte Uhr. Sie ist ein Erbstück aus der Familie meiner Frau. Jeden Sonntagmorgen ziehe ich sie auf. Und dann ist sie nicht mehr zu halten, dann rennt sie los. Die ersten drei Tage der Woche ist sie ihrer Zeit weit voraus, mindestens zwei, drei Minuten pro Tag. Ich drehe ihren Minutenzeiger immer wieder zurück. So. Jetzt stimmt ihre Zeit wieder. Die Uhr ist genau in der Gegenwart, im Hier und Jetzt.
Ach, wenn das bei mir doch auch so einfach ginge. Es gibt Tage, da bin ich wie aufgezogen, meine Gedanken sind wie Trolle. Sie jagen mich weit in die Zukunft. Schon beim Aufwachen schreien sie mich an: „Los! Sieh zu, dass du hochkommst! Es gibt viel zu tun!“ An diesen Tagen bin ich ein Getriebener, denke nur darüber nach, was ich noch alles zu tun habe und wie ich das bloß schaffen soll. Ich bin dann nie ganz bei der Sache, nie ganz bei dem, was ich gerade tue.
Dabei sind genau das die schönsten Momente in meinem Leben: Wenn jemand den Zeiger zurückdreht, mich in die Gegenwart holt, wenn ich die Zeit vergesse.
Ich sehe mit meiner Enkeltochter zu, wie sie mit ihrem neuen Bauernhof spielt. Sie ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ich genieße die Sonne bei einem langen Spaziergang mit meiner Frau. Ich vergesse die Zeit beim Gespräch mit einem Freund. Nie spüre ich das Leben so intensiv wie in diesen Momenten.
Ich drehe den Zeiger an unserer alten Uhr zurück, hole tief Luft und denke: „So. Jetzt sind wir beide genau da, wo wir hingehören: in der Gegenwart, in diesem Moment.“
Gott, Geheimnis des Lebens, ich glaube, dass die Gegenwart, dass genau dieser Moment ein Geschenk ist.
Ich glaube, hilf meinem Unglauben…
Jetzt!
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat leidenschaftlich gern telefoniert. Das Gespräch mit einem Freund konnte schon mal zwei, drei Stunden dauern. Der hatte es ja noch gut. Zu seiner Zeit gab nur ein einziges Telefon im Haus. Wenn er gesprochen hat, war halt besetzt. Niemand hat gestört.
Bei mir ist das ganz anders. Ich spreche im Festnetz – da brummt das Handy. Was machst du jetzt? Rangehen oder weiter telefonieren? Ich schaue auf das Display. O Mann, es ist der Handwerker. Ich warte schon ewig auf seinen Rückruf. Egal, ich gehe jetzt nicht ran. Aber aus meinem Gespräch bin ich erst mal raus. Muss mich wieder ganz neu konzentrieren.
Eine andere Situation: Wir sind mitten im Taufgespräch. Da macht es in der Sakkotasche des stolzen Papas „Ping.“ Aha. Eine Kurznachricht. Von wem mag sie sein? Er schaut natürlich nicht gleich nach. Aber ich spüre deutlich: er ist nicht mehr so ganz bei der Sache. Es dauert eine Weile, bis er wieder im Gespräch ist.
Dietrich Bonhoeffer hat vor knapp 90 Jahren gesagt: Du kannst Gott nur in der Gegenwart erfahren. Wer aus der Gegenwart flieht, der flieht vor Gott. Wenn ich nicht hier bin, in diesem Moment, dann verpasse ich das Leben dann verpasse ich die Liebe – dann verpasse ich Gott.
Hier zu sein. In diesem Moment. Genau das fällt mir immer schwerer.
Dabei ist es das einzige, was ich habe: diesen Moment. Und es ist so leicht, ihn zu verpassen: mal eben die Mails checken, die neuesten Nachrichten lesen, das neue Video vom Enkelkind ansehen. Was um mich herum geschieht, verliert ganz schnell an Bedeutung.
Ich habe all diese Ping und Peng Töne bei meinem Smartphone abgeschaltet. Wenn ich in einem Gespräch bin, stelle ich das Teil in den Flugmodus, dann kann wirklich keiner mehr stören.
Ja, das Smartphone ist praktisch. Aber ich muss noch eine Menge lernen, damit ich das Leben nicht verpasse.
12 Minuten geschenkt
Ich habe bei der Autorin Susanne Niemeyer einen Adventskalender bestellt. Sie schickt mir jetzt jeden morgen eine Email, ein„freudenwort.“
Heute schreibt Susanne:
Am Nachmittag tut sich plötzlich eine Lücke auf. Passanten schauen neugierig hinein. „Was ist da?“ „Nichts.“ Enttäuscht gehen sie weiter.
Warum eigentlich?
Wenn dir heute eine Stunde geschenkt würde, was würdest du tun?
Und was, wenn es 12 Minuten wären?
Ich fühle mich ertappt. Sie kommt gern mal zu spät. Ruft aber nie an. Hat ihr Handy meist nicht mal dabei. Und ich werde dann stinksauer: “ Wenn ich wüsste, wann du kommst – in drei, zwölf oder dreißig Minuten – dann könnte ich ja was damit anfangen. Aber so? Verlorene Zeit!
Doch wenn die Lücke ein Geschenk ist? Ich könnte ein schönes Lied hören, das mich zu Tränen rührt (ist mir schon passiert). Aus dem Fenster gucken, was die Vögel am Futterhaus so treiben. Jemandem eine richtig nette SMS schreiben. Träumen. Vom Strand auf Sylt. Und von den Bergen in Südtirol.
Himmlische Ruhe
Ich sitze frühmorgens im Garten.
Himmlische Ruhe.
Nicht mal die Vögel singen. Die Schwalben sind schon wieder gen Süden unterwegs.
Und die Amseln? Ab und zu sitzt eine unterm Baum, grau und zerrupft. Sie pickt an einem heruntergefallenen Apfel. Sonst hört und sieht man sie nicht.
Fast alle erwachsenen Amseln sind jetzt in der Mauser. Ihre Federn haben sich abgenutzt, müssen ersetzt werden. Sie brauchen jetzt Ruhe, können nicht hoch hinaus.
*
Was bist du für ein komischer Vogel!
Glaubst, du brauchst das nicht: Ruhe für die Seele. Doch auch ihre Kräfte nutzen sich ab. Du kannst nicht immer hoch hinaus, brauchst Zeiten der Erneuerung; bist dann verletzlich, musst neue Kräfte sammeln.
Zeit für dich.
Himmlische Ruhe.
Die Kirchturmuhr
Jennifer ist schlau. Sie klemmt ihren Scheitel immer hinters linke Ohr, trägt eine kluge Brille wie man sie gerade so trägt, liest anspruchsvolle Bücher und kommt immer pünktlich zum Konfirmandenunterricht. Und sie stellt kluge Fragen. Neulich hat sie mich gefragt. „Warum sind an so vielen Kirchtürmen Uhren?“ „Das hat einen guten Grund“ habe ich ihr geantwortet. Die Kirchen stehen meistens mitten im Ort, oft am Marktplatz. Man kann sie von überall sehen und vor allem hören. Die Menschen hatten früher noch keine Armanduhren. Aber so wusste trotzdem jeder im Ort, wie spät es ist. Die Kirchturmuhren waren nicht besonders genau. Ob es nun in Braunschweig zehn Minuten früher oder später war als in Hannover – was spielte das für eine Rolle? Jeder Ort hatte seinen eigenen Rhythmus.
„Cool!“ meinte Jennifer. „Warum ist das heute nicht mehr so?“
Das wurde anders mit der Erfindung der Eisenbahn. Die Orte rückten näher zusammen, man kam schnell von A nach B. Jetzt brauchte man eine genauere Zeit, eine, die für alle Orte galt. Und nach und nach wurde aus dem Zeitrhythmus der Takt: immer gleichmäßiger und immer genauer.
„Und jetzt ist Pünktlichkeit eine Tugend“ habe ich Jennifer erklärt. „Es ist ganz wichtig, dass man nicht zu spät kommt..“
Jennifer schüttelt den Kopf. „Also das ist bei uns nicht mehr so schlimm,“ sagt sie. „Ich habe ja schließlich mein Handy dabei. Wenn es später wird, schick ich meiner Freundin eine SMS und fertig.“
„Aber wenn ich Sonntag Abend den Tatort kucken will, dann muss ich immer noch absolut pünktlich sein,“ kontere ich, „sonst verpasse ich den Anfang!“
„Aber Herr Pastor!“ sagt Jennifer und lächelt „haben Sie noch nie was von der Mediathek gehört? Im Internet können Sie Ihren Tatort kucken wann sie wollen!“
Jennifer hat Recht. Es ist ja wirklich so: Unsere Generation war genau getaktet. Morgens pünktlich am Zug abends pünktlichst vor der Tagesschau, immer auf die Minute genau! Pünktlichkeit war eine große Tugend: „Wer nicht pünktlich ist, verpasst das Leben!“
Das ändert sich gerade.
Fast jeder hat ein Handy in der Tasche. Das Nachteile. Du bist immer erreichbar. Wenn du nicht aufpasst, wirst du ständig gestört, kannst nicht mehr in Ruhe arbeiten. Auf der anderen Seite: Wenn du zu etwas zu spät kommst, ist das mehr nicht mehr so schlimm – ein kurzer Anruf oder eine SMS genügt: „Bin in zehn Minuten da.“ Und wenn du am Sonntag den Tatort nicht pünktlich schaffst, dann schaust du ihn dir halt in der Mediathek an.
Wie wird das weitergehen?
Bin ich bald nur noch fremdbestimmt?
Oder kann ich wieder stärker meinem eigenen Rhythmus folgen, schauen, was jetzt gerade für mich dran ist?
Ich bin gespannt.
Aber eins gilt nach wie vor:
Wenn du Gott zum Lachen bringen willst – erzähl ihm von deinen Plänen.
Andacht für NDR 1 „Himmel und Erde“
Rasenroboter
Der Rasenroboter stoppt vor meinen Füßen, dreht sich um die eigene Achse und holpert quer über unseren Sportplatz. Ich schaue ihm eine Weile zu. Und staune:
Ich dachte immer, die Dinger arbeiten systematisch, Bahn für Bahn. Aber so ist das ist gar nicht. Als die selbstfahrende Mähmaschine an der Eckfahne anlangt, fährt sie plötzlich in Richtung Mittelkreis. So geht es weiter: Der Rasenroboter brummt chaotisch kreuz und quer über den Platz. „Wie kriegt das Teil den Rasen ohne System so kurz?“ frage ich mich.
Ich muss an meinen Tageslauf denken. Der ist oft genug genau so wie der Weg vom Rasenroboter: Morgens, bevor es losgeht, mache ich immer erst mal einen Plan: „Als erstes beantwortest du deine Emails. Dann räumst du deinen Schreibtisch auf und dann … In dem Moment klingelt das Telefon – und mein ganzer schöner Plan ist über den Haufen geworfen. Ab jetzt laufe ich kreuz und quer durch meinen Tag, wie so ein Rasenroboter, laufe in Sackgassen, mache Kehrt, stundenlang. Wenn ich dann endlich Feierabend habe, denke ich oft: „O Mann! War das ein Chaos! Hast heute wieder überhaupt nichts geschafft.“ Aber das stimmt nicht. Ich habe nur das nicht geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Mein schöner Plan hat nicht funktioniert.
Unsere Fußballer sagen übrigens, „Wir hatten noch nie so einen gepflegten Rasen wie mit diesem Mähroboter.“ Das ist mir ein Rätsel! „Wie kann das funktionieren, dass bei diesem Ding, das acht Stunden am Tag planlos über das halbe Hektar Grün holpert so ein super Ergebnis herauskommt? Wie kommen die Ingenieure bloß auf so eine Idee?“ Also, ich habe nachgelesen. Die Entwickler sagen: „ Das war ganz einfach! Wir haben uns das bei den Schafen abgeguckt. Die laufen auch nicht in Reih und Glied über die Wiese, sie knabbern mal hier und mal da. Aber am Ende ist die Wiese kurz.“
Seit ich das weiß, muss ich schmunzeln, wenn ich den Mähroboter sehe:
Im Grunde ist es ja genau das, was der Jesus uns immer wieder rät: Sorge dich nicht, was der Tag bringen wird. Lass dich ruhig ablenken! Bleib einfach mal stehen! Staune über der Lilien auf dem Felde. Sie sind so schön! Und wirf alle deine Pläne sofort über den Haufen, wenn ein Mensch deine Hilfe braucht – so wie der barmherzige Samariter. Pläne sind gut. Aber ein sattes, buntes, reiches Leben wirst du nur haben, wenn du dich auch mal um die eigene Achse drehst, kreuz und quer durch den Tag holperst.
Zeit für mich
Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung.
Ein Bild aus der Bibel hat mich schon immer fasziniert: Und Jesus ging allein auf einen Berg heißt es dort.
Ganz allein sein, nur für sich. Auf einem Gipfel sitzen mit einer phantastischen Aussicht. Eine wunderbare Vorstellung.
Aber länger allein dort oben bleiben? Ohne die anderen, ohne ein Buch ohne Smartphone? Könnte ich das wirklich aushalten?
Eine Freundin ist den Jakobsweg gepilgert. Sie ist begeistert. Nur eines hat sie genervt: jeder zweite hat gefragt: Was ist dein Schnitt? Wie viele Kilometer schaffst du am Tag?
Wir wollen etwas zu tun haben! Immer! Es muss vorangehen! Da kannst du nicht einfach so auf einen Berg gehen! Das muss einen Sinn haben! Du tust was für deine Fitness oder stellst einen persönlichen Rekord auf: in einer Stunde bis zum Gipfel!
Einfach mal so auf einem Berg sitzen, allein? Undenkbar! Doch wir spüren, dass uns genau das fehlt. Aber wer hat schon Zeit, einfach mal auf einen Berg zu steigen, sich für längere Zeit zurückzuziehen?
Bei dem Schriftsteller Jorge Bucay habe ich eine einfache Übung für den Alltag gefunden:
Setz dich einmal in der Woche für eine Stunde in deinen Lieblingssessel oder in ein Café und tue gar nichts! Zuerst wirst du unruhig, dann wütend: wann ist die Stunde endlich vorbei?! Doch am Ende wirst du von einer tiefen Ruhe erfasst, von der Kraft, die dein Leben trägt.
Ich habe das im Urlaub ausprobiert: eine Stunde am Strand, ohne irgendwas zu tun. Es war super! Zu Hause schaffe ich inzwischen zwanzig Minuten immerhin…
Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini
Reisezeit
Wir waren in Pont-Aven. Dort hat Paul Gauguin eine Weile gelebt, eine Malschule gegründet.
Ich war ein wenig enttäuscht. Ganz hübsch, ja, aber nichts besonderes, ein Ort wie viele. Und das Kreuz in der Kirche, das Gauguin zu seinem gelben Christus inspiriert hat? Na ja…
Aber was habe ich erwartet? Ich war für einen Nachmittag da, wollte möglichst viel sehen und habe mitgekriegt, was Touristen eben so mitkriegen. Ein paar Stunden reichen nie für einen Ort. Du siehst nur, was alle sehen.
Gauguin war monatelang hier.
Und er seinen eigenen Augen getraut, hat gemalt, was nur er sehen konnte: den gelben Christus, die Badenden an der Mühle im Bois d‘ Amour.
Reisen braucht Zeit.
Und den Mut zum eigenen Blick.
Keine Zeit?
Urlaub.
Endlich Zeit zum Lesen!
Ein Buch über die Zeit: Marc Wittmann, „Gefühlte Zeit – Kleine Psychologie des Zeitempfindens.“
Er zitiert Martin Heidegger:
„Das keine Zeit haben, das so aussieht wie der strengste Ernst, ist vielleicht die größte Verlorenheit an die Banalitäten des Daseins.“
Wenn der Mensch keine Zeit hat, hat er sich selbst verloren.
Ohne Zeit kein Ich.
Auf der anderen Seite: Wenn ich (zu viel) Zeit habe, werde ich nervös: „Will keiner was von mir? Bin ich abgehängt, nicht wichtig?“
Wir spüren die Zeit in der Bewegung und in der Ruhe – in der Arbeit und der Meditation. Auf die Balance kommt es an.
Balancieren.
Ich sehe den Jungen auf der Slackline. Es wirkt so spielerisch – und braucht so viel Übung. Er fällt immer wieder runter. Aber was soll´s? Er hat ja Zeit…