Schlagwort: Leben

Die Kirchturmuhr

Jennifer ist schlau. Sie klemmt ihren Scheitel immer hinters linke Ohr, trägt eine kluge Brille wie man sie gerade so trägt, liest anspruchsvolle Bücher und kommt immer pünktlich zum Konfirmandenunterricht. Und sie stellt kluge Fragen. Neulich hat sie mich gefragt. „Warum sind an so vielen Kirchtürmen Uhren?“ „Das hat einen guten Grund“ habe ich ihr geantwortet. Die Kirchen stehen meistens mitten im Ort, oft am Marktplatz. Man kann sie von überall sehen und vor allem hören. Die Menschen hatten früher noch keine Armanduhren. Aber so wusste trotzdem jeder im Ort, wie spät es ist. Die Kirchturmuhren waren nicht besonders genau. Ob es nun in Braunschweig zehn Minuten früher oder später war als in Hannover – was spielte das für eine Rolle? Jeder Ort hatte seinen eigenen Rhythmus.
„Cool!“ meinte Jennifer. „Warum ist das heute nicht mehr so?“
Das wurde anders mit der Erfindung der Eisenbahn. Die Orte rückten näher zusammen, man kam schnell von A nach B. Jetzt brauchte man eine genauere Zeit, eine, die für alle Orte galt.  Und nach und nach wurde aus dem Zeitrhythmus der Takt: immer gleichmäßiger und immer genauer.
„Und jetzt ist Pünktlichkeit eine Tugend“ habe ich Jennifer erklärt. „Es ist ganz wichtig, dass man nicht zu spät kommt..“
Jennifer schüttelt den Kopf. „Also das ist bei uns nicht mehr so schlimm,“ sagt sie. „Ich habe ja schließlich mein Handy dabei. Wenn es später wird, schick ich meiner Freundin eine SMS und fertig.“
„Aber wenn ich Sonntag Abend den Tatort kucken will, dann muss ich immer noch absolut pünktlich sein,“ kontere ich,  „sonst verpasse ich den Anfang!“
„Aber Herr Pastor!“ sagt Jennifer und lächelt „haben Sie noch nie was von der Mediathek gehört? Im Internet können Sie Ihren Tatort kucken wann sie wollen!“
Jennifer hat Recht. Es ist ja wirklich so: Unsere Generation war  genau getaktet. Morgens pünktlich am Zug  abends pünktlichst vor der Tagesschau, immer auf die Minute genau!  Pünktlichkeit war eine große Tugend: „Wer nicht pünktlich ist, verpasst das Leben!“
Das ändert sich gerade.
Fast jeder hat ein Handy in der Tasche. Das Nachteile. Du bist immer erreichbar. Wenn du nicht aufpasst, wirst du ständig gestört, kannst nicht mehr in Ruhe arbeiten. Auf der anderen Seite: Wenn du zu etwas zu spät kommst, ist das mehr nicht mehr so schlimm – ein kurzer Anruf oder eine SMS genügt: „Bin in zehn Minuten da.“ Und wenn du am Sonntag den Tatort nicht pünktlich schaffst, dann schaust du ihn dir halt in der Mediathek an.
Wie wird das weitergehen?
Bin ich bald nur noch fremdbestimmt?
Oder kann ich wieder stärker meinem eigenen Rhythmus folgen, schauen, was jetzt gerade für mich dran ist?
Ich bin gespannt.
Aber eins gilt nach wie vor:

Wenn du Gott zum Lachen bringen willst – erzähl ihm von deinen Plänen.

Andacht für NDR 1 „Himmel und Erde“

Ich bin getauft

 

Ich bin getauft
Meine Eltern haben mich taufen lassen, als ich ein Baby war. Hat das heute noch eine Bedeutung für mich?
Der Schriftsteller David Foster Wallace schildert in „Für immer ganz oben“, wie ein 13jähriger Junge das erste Mal vom 10 m Turm springt.
Er steht im Freibad in der Schlange am Sprungturm: „Von einem bestimmten Punkt an sind in der Schlange mehr Menschen hinter dir als vor dir.“
Schließlich steht er auf der Leiter: „Auf der Leiter wiegst du wirklich etwas. Die Erde will dich wieder.“
Es geht langsam nach oben. Es ist windig hier. „Wenn du erst mal auf der Leiter stehst, gibt es kein zurück mehr.“ Er steht ganz oben. Vor ihm noch eine ältere Frau, dann ist er dran. Er sieht sie abspringen. Sie verschwindet aus seinem Blickfeld.
Er horcht. Viel zu lange hört er nichts. Dann klatscht sie ins Wasser.
Ein Geräusch, ein paar Spritzer, Wellen, Luftblasen, die aufsteigen, dann ist das Wasser wieder ruhig. Als sei nichts gewesen.
„Hey! Junge! Was ist los? Ich will hier nicht ewig warten!“ Die Stimme hinter ihm. Jetzt ist er dran.
Klar, der Sprung ist schwer. Lass dich fallen. Vertrau darauf, dass die Liebe dich umfängt wie das Wasser der Taufe. Lebe. Und stirb. Lass deine Ängste sterben. Auch die vor dem großen Tod. Egal, ob sie dich schubsen oder ob du springst, es wird dich umfangen, aufnehmen. Wichtig ist nur: das Wasser, das Leben, macht dir keine Angst mehr. Im Wasser bist du fast nackt. Nichts unterscheidet dich von den anderen und doch bist du einzigartig.

Du bist getauft.

(Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung)

3. Advent

Ameisen?

  1. Advent
  2. Predigt über Kor. 4, 1-5 in St. Martini Braunschweig

Die Schriftstellerin Susanne Niemeyer erzählt folgende kleine Szene:
Ein kleines Mädchen hockte am Rand des Spielplatzes und sah sehr vertieft aus. „Was machst du?“, fragte ich. „Schau“, sagte es, „die Ameisen.“ Ich konnte nichts Besonderes entdecken. „Sie laufen umher und tragen Sachen und wissen nicht, dass ich sie angucke. Ist das nicht komisch?“ Nachdenklich fügt sie hinzu: „Für die Ameisen könnte ich Gott sein.“
„Wir sind Haushalter über Gottes Geheimnisse“ sagt Paulus.
Was heißt das? Sind wir die, die wissen, dass sie beobachtet werden? Immer? Wie wir hier rumkrabbeln, irgendwelche sinnlosen Dinge tun, uns abmühen mit wer weiß was?
Was sieht Gott, wenn er mich jetzt, in diesem Moment, beobachtet?
Ich bin in der Kirche. Auf der Suche nach… Ja, wonach?
Nach Gewissheit?
Nach der adventlichen Stimmung in all dem Trubel? Suche ich Kraft für meinen Alltag – oder will ich da einfach mal raus?
Was sieht Gott, wenn er mich beobachtet – wie das kleine Mädchen die Ameisen?
Ich kann das nicht sagen. Das ist sein Geheimnis. Gott sieht mehr als ich.
Das ist gar nichts besonderes. Ein Vogel, ein Habicht, sieht schon mehr als ich. Er kann eine Biene genauso scharf erkennen wie ich einen Baum – er sieht auch die aufsteigende Luft, die ihn nach oben trägt. Seine Augen sind den meinen weit überlegen. Er sieht, was mir verborgen ist.
Haushalter, Verwalter der Geheimnisse Gottes.
Das sollen wir sein, sagt Paulus.
Was hüten wir da?
Können wir etwas ahnen, etwas sehen von den Geheimnissen Gottes?
Der Habicht hat vier statt drei Rezeptoren in seinen Augen. Darum kann er mehr sehen als wir. Das ist sein Geheimnis.
Doch was ist das Geheimnis Gottes?
Schauen wir noch einmal auf das kleine Mädchen. Wie sie da hockt und auf die Ameisen schaut:
„Eigentlich könnte ich ihr Gott sein.“
Nein, nicht könnte…
In diesem Moment ist sie ihr Gott. Sie lässt sie in Ruhe. Doch sie könnte auch ganz anders. Ich denke noch mit Grausen an die Experimente, die wir als Kinder mit Ameisen, mit Schnecken, mit Fröschen getrieben haben.
Der Gott kann mit den Ameisen machen was er will.
Kann sie laufen lassen – kann aber auch mal eben mit dem Zeigefinger…
Und die Ameise kann nichts tun – außer im Bau, im Dunkel verschwinden. Sich verbergen vor den Augen ihres Gottes, vor den Augen dieses kleinen Mädchens, Herrin über Leben und Tod.
Doch das kleine Mädchen sagt ja ganz zu Recht:
„Die Ameisen wissen gar nicht, dass sie beobachtet werden.“ Es sei denn, etwas Schreckliches geschieht, die Herrin schlägt zu. Dann wissen die Ameisen, dass ihre Göttin grausam ist, unbarmherzig. Dann wissen sie, dass sie halt nur Ameisen sind. Unbedeutend, eine von vielen. Spielball des Schicksals.
Opfer der Willkür eines kleinen Mädchens.
Ich glaube, dass ist das Lebensgefühl vieler Menschen.
Wir haben Angst vor dem, was wir Schicksal nennen.
Wollen gar nicht wissen, was die Zukunft bringt.
Das Schicksal ist blind.
Doch wenn wir die Angst vor dem Schicksal halbwegs gebannt haben, dann kommt noch eine weitere hinzu:
Die Angst vor den anderen.
Was sollen die Leute sagen?
Ein harmloses Beispiel:
Ich kaufe mir ein neues Auto, einen Touran.
„Ein cooles Teil,“ sagt ein Freund, „ist praktisch und fährt super. Du musst nur wissen, welches Image du dir damit einkaufst.“
Ein Touran ist langweilig. Du bist ein Langweiler.

Nein, du brauchst keinen Gott, der von außen draufschaut.
Die anderen reichen.
Sie sehen dich.
Sie warten nur drauf, dich zu beurteilen – zu verurteilen.
Langweiler ist da noch harmlos.
Du bist immer auf der Hut vor ihrer Meinung. Kannst nicht mal eine Meinungsumfrage machen wie die Politiker. Sie werden dir nicht sagen, was sie wirklich von dir denken. Außerdem ist ihre Meinung nur von kurzer Haltbarkeit – eben noch Hosianna…
Der Gott ist der, der dich beobachtet, von außen betrachtet.
Was sieht er?
Auf jeden Fall mehr, als du ihm zeigen willst.
Der Richtergott sitzt neben dir.
Und du bis es selbst für deinen Nächsten.
Paulus sagt: „Das ist mir völlig egal. Was ihr von mir haltet, interessiert mich überhaupt nicht.“
Doch er sagt das ohne Überheblichkeit. Er sagt: Ihr seid viel zu schnell mit eurem Urteil. Das erste, was ihr tut, wenn ihr einem Menschen begegnet, ist ihn taxieren: hübsch oder hässlich – gut oder schlecht…
Lasst das sein!
Euer ewiges Urteilen und Beurteilen führt euch in den Zynismus: „Der ist ja auch nicht besser…“ und in die Angst:
„Was, wenn die anderen?“
Fragt lieber nach dem, der euch so geheimnisvoll begegnet – der euch leben lässt. Jeden Tag, mit jedem Atemzug. Fragt nach dem, was euch wirklich trägt.
Was ist die Quelle meines Lebens?
Woraus speist sich alles, was in mir lebendig ist?
Ich bin in der Kirche. Auf der Suche nach dem Geheimnis Gottes.
Ich kann es fühlen, doch es fällt unendlich schwer, es auszudrücken.
Das Geheimnis findest du im kleinen Kind – verletztlich, hilflos. Du findest es in dem, der leidet für die anderen – du findest es in dem, der neu beginnt in all dem Leid. Der es durschreitet, überwindet.
Geheimnis Gottes. Ich kann seiner gewahr werden. Und ich soll es hüten wie einen kostbaren Schatz.
Mehr wird nicht von mir erwartet.

Amen.

 

 

 

 

 

Der kahle Baum

 

Ein junger, kahler Baum an einem schönen Tag Anfang November.

Unter seiner Krone liegen im Kreis alle seine Blätter, leuchten golden in der Sonne.

So stelle ich mir das vor: Eben noch waren die Blätter, alles was ich tue und wirke, im vollen Saft. Doch jetzt werden sie golden. Fallen von mir ab. Liegen unter mir, sind eine Weile noch die meinen.

Ein Teil wird verweht. Wird irgendwo anders wirken. Ich hoffe auch in den Menschen, die ich liebhabe. Ein Teil kehrt über die Wurzeln zu mir zurück, wird mich selbst nähren; doch vergeblich hat keines gegrünt.

 

Liebe ohne Leiden?

Andacht für den NDR, Radio Niedersachen, „Himmel und Erde“

Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden.“ Erinnern Sie sich? So hieß ein Schlager von Udo Jürgens. Er hat ihn 1984 für seine Tochter Jenny gesungen. „Ich wünsch ich Dir Liebe ohne Leiden und Glück für alle Zeit.“ Das wäre so schön. Ja, das wünschen Väter ihren Töchtern. Obwohl wir natürlich genau wissen, dass das nicht geht. Und Udo Jürgens wusste das natürlich auch.

Tatsächlich. Liebe ohne Leiden gibt es nicht. Man ist eine Weile verliebt, Schmetterlinge im Bauch… Doch auf die Dauer reicht das nicht. Liebe ohne Leiden wäre wie ein Schiff ohne Tiefgang. Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, dann will ich ihn so annehmen wie er ist. Ich will für ihn da sein, wenn es ihm schlecht geht. Ich will ihm Mut machen in den Mühen des Alltags.
Ich werde oft gefragt: Wenn Gott unser Vater ist, müsste er dann nicht dafür sorgen, dass seine Kinder nicht leiden? Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass er im Leiden bei uns ist.
Wie ein Vater von vier Kindern, der gefragt wird: „Welches deiner Kinder liebst du am meisten?“ „Keins von ihnen! Ich liebe alle meine Kinder gleich!“ antwortet er. „Ach komm!“ bohrt der Frager, „mach dir doch nichts vor! Der Vater denkt lange nach. Dann sagt er: „Du hast Recht. Ich liebe immer das Kind am meisten, um das ich mich am meisten sorge. Wenn eines meiner Kinder krank ist, dann liebe ich das am meisten.
Wenn eines Probleme in der Schule hat – liebe ich das am meisten. Wenn ein Kind Liebeskummer hat – dann liebe ich das am meisten. Und wenn ein Kind das Gefühl hat, ein Versager zu sein, dann liebe ich das am meisten.“
Genau das wünscht Udo Jürgens auch seiner Tochter: jemanden, der immer an ihrer Seite steht. Sein Lied ist fast ein Gebet:
Ich wünsch Dir Liebe ohne Leiden, und eine Hand, die Deine hält
Ich wünsch Dir Liebe ohne Leiden und dass Dir nie die Hoffnung fehlt
Und dass Dir Deine Träume bleiben und wenn du suchst nach Zärtlichkeit,
wünsch ich Dir Liebe ohne Leiden und Glück für alle Zeit

Nur ein Talent

Andacht für NDR 1 Radio Niedersachsen

Er ist der Älteste von drei Geschwistern. Als er 13 Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Später wird er erzählen: „Bei der Beerdigung, auf dem Friedhof, spürte ich das erste Mal, dass ich die Hand meiner Mutter hielt und nicht mehr sie die meine.“

Von nun an ist das Geld in der Familie knapp. Neue Klamotten gibt es nur selten. Stattdessen geht es regelmäßig zur Kleiderkammer der Caritas. Dort entwickelt der Junge einen Kniff: Er sucht sich immer noch ein paar Accessoires aus: Ketten, Ringe, Schals, Westen oder Brillen. Und die kombiniert er dann mit den Second-Hand-Klamotten aus der Kleiderkammer. Seinen Mitschülern erzählt er: „Das ist der neueste Schick!“ – Ja klar.

Er liebt Musik, lernt Klavier und Querflöte. Doch es ist ihm sehr schnell klar: zum Musiker wird es nicht reichen. In der Schule läuft es eher quälend. Er hört am liebsten den ganzen Nachmittag Radio, schafft mit Müh und Not das Abitur.

Seine Mutter drängt auf ein Studium. Aus dem Jungen soll was Anständiges werden. Er sagt von sich selbst: „Ich habe eigentlich nur ein Talent. Ich kann Menschen unterhalten.“ Und das kann er gut. Schon in der Schule. Das ist ja alles schön und gut“ sagt seine Mutter. „Aber wie willst du davon leben?“.

Jesus erzählt dazu ein Gleichnis. Das handelt von drei Männer. Zwei von ihnen haben viele verschiendene Talente, der dritte nur ein einziges. Der Mann ist verunsichert, traut sich nichts zu und versteckt sein Talent. Es ist ihm viel zu klein. Das reicht doch niemals zum Leben! Jesus kritisiert das. Denn aus wenig kann ganz viel werden. Wie bei diesem jungen Mann mit dem einen Talent und den schrägen Klamotten. Heute ist er einer der bekanntesten Männer dieses Landes: Thomas Gottschalk.

Nein, es geht nicht um die Menge der Begabungen, die du mitbekommst. Denn selbst wenn du nur ein einziges Talent hast: Es ist ein Geschenk Gottes. Er glaubt an dich, nimmt dich bei der Hand auch wenn du es selbst nicht fassen kannst.

Zeit für mich

Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung.

Ein Bild aus der Bibel hat mich schon immer fasziniert: „Und Jesus ging allein auf einen Berg“ heißt es dort.
Ganz allein sein, nur für sich. Auf einem Gipfel sitzen mit einer phantastischen Aussicht. Eine wunderbare Vorstellung.
Aber länger allein dort oben bleiben? Ohne die anderen, ohne ein Buch – ohne Smartphone? Könnte ich das wirklich aushalten?
Eine Freundin ist den Jakobsweg gepilgert. Sie ist begeistert. Nur eines hat sie genervt: jeder zweite hat gefragt: „Was ist dein Schnitt? Wie viele Kilometer schaffst du am Tag?“
Wir wollen etwas zu tun haben! Immer! Es muss vorangehen! Da kannst du nicht einfach so auf einen Berg gehen! Das muss einen Sinn haben! Du tust was für deine Fitness oder stellst einen persönlichen Rekord auf: in einer Stunde bis zum Gipfel!
Einfach mal so auf einem Berg sitzen, allein? Undenkbar! Doch wir spüren, dass uns genau das fehlt. Aber wer hat schon Zeit, einfach mal auf einen Berg zu steigen, sich für längere Zeit zurückzuziehen?
Bei dem Schriftsteller Jorge Bucay habe ich eine einfache Übung für den Alltag gefunden:
Setz dich einmal in der Woche für eine Stunde in deinen Lieblingssessel oder in ein Café und tue gar nichts! Zuerst wirst du unruhig, dann wütend: wann ist die Stunde endlich vorbei?! Doch am Ende wirst du von einer tiefen Ruhe erfasst, von der Kraft, die dein Leben trägt.
Ich habe das im Urlaub ausprobiert: eine Stunde am Strand, ohne irgendwas zu tun. Es war super! Zu Hause schaffe ich inzwischen zwanzig Minuten – immerhin…
Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini

Pharisäer und Zöllner

Predigt am 16. August in St. Martini

Pharisäer und Zöllner
11. Sonntag nach Trinitatis
„Herr ich danke dir, dass ich nicht so bin wie dieser Zöllner.“
Das Phänomen kennen wir alle. Als Täter und Opfer. Ich bin gern anders als die anderen – und ich leide darunter, wenn ich ausgeschlossen werde, weil ich nicht so bin wie sie: zu alt oder zu jung, zu reich oder zu arm, zu links oder zu rechts – nicht richtig eben…
Aber die Rolle wechselt: mal bin ich Pharisäer, mal Zöllner. Mal froh, auf der richtigen Seite zu stehen, mal traurig, weil ich nicht dazu gehöre.
Das Phänomen hat sich nicht geändert. Und doch frage ich mich, ob Jesus dieses Gleichnis heute noch genau so erzählen würde.
Wo finde ich ihn noch, den selbstzufriedenen Pharisäer, den, der weiß, dass alles gut ist, der immer auf der richtigen Seite steht?
*
Ich kenne diesen Typen nur aus dem Fernsehen, von Pegida Demonstrationen oder vor Flüchtlingsheimen:
„Herr ich danke dir, dass ich nicht so bin wie dieser Ausländer.“
Diese Menschen, die dann anonyme Leserbriefe gegen die Dompredigerin schreiben – Briefe, die so übel sind, dass sie nicht veröffentlicht werden können.
Stehe ich jetzt selbst auf der anderen Seite?
„Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie diese Brandstifter und Heckenschützen?“
Nein, ich glaube nicht. Ich bin Cornelia Götz dankbar für ihr mutiges Interview. Es ist nötig, dass wir als Christinnen und Christen klar Stellung beziehen für die Ärmsten der Armen, für die, die unsere Hilfe brauchen.
Und doch höre ich Jesu Warnung vor Selbstgerechtigkeit sehr deutlich: Sei dir deiner selbst, sei dir deines Lebensstils nie zu gewiss. Mach dich selbst nicht groß dadurch, dass du andere klein machst.
Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Ich finde diesen feisten, selbstgewissen Typen nur noch selten – auch nur selten in mir selbst.
Ich bin mir meiner nicht mehr gewiss. Ganz im Gegenteil, ich würde mir das manchmal wünschen, endlich mal sagen zu können: Ich bin froh, dass ich so bin wie ich bin.
*
Woran das liegt?
Ganz einfach:
Du darfst nicht mehr stillstehen.
Du darfst nicht einfach so zufrieden sein mit dem, was ist. Du musst dich verbessern, ständig und stetig. In der Technik gilt: das Bessere ist der Tod des Guten. Das Iphone 6 ist besser als das fünfer.
Der bessere Mitarbeiter ist eine Gefahr für den guten: er ist jünger und schneller.
Die heutigen sechzigjährigen, sagt man, sind so fit wie früher die Menschen mit vierzig. Schön und gut. Also versuch, so fit zu sein wie mit dreißig…
Wir sind immer unterwegs, immer dabei, uns zu optimieren, wir stellen uns nicht einfach hin und sage: „Danke, dass ich so bin wie ich bin.“
Stillstand ist Rückschritt, also: Weiter! Weiter! Weiter!
Der Pharisäer ist so selbstzufrieden, weil er alles richtig macht.
Mal ehrlich: Wer wollte das heute von sich noch behaupten?
Nein, wir sind aus einem anderen Grund selbstzufrieden:
Wir sind auf dem richtigen Weg wir verbessern uns ständig. Wir laufen mit Schwung und selbstgewiss in den seelischen Tod.
*
Ein Arzt hat mir von einer neuen Krankheit erzählt, die in letzter Zeit stark um sich greift. Er hat jetzt die ersten Patienten bei sich in der Klinik.
Diese Krankheit heißt Orthorexie:
Milch ist tabu, Zucker sowieso, Weizenprodukte werden verschmäht, selbst Obst und Gemüse aus dem konventionellen Anbau kommen nicht mehr auf dem Tisch. Gegessen werden nur noch wenige ausgewählte Lebensmittel, im Extremfall vielleicht nur im eigenen Garten Angebautes. Manche Menschen beschäftigen sich so intensiv mit gesunder Ernährung, dass sie davon krank werden.
Diese Menschen haben oft auch das Gefühl der Überlegenheit und einen starken Missionierungseifer. Sie wollen andere von ihrer Art, sich zu ernähren überzeugen.
*
Schrecklich, oder?
„Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie dieser Mann mit seiner Orthorexie!“
Dann doch lieber herzhaft in die fette Bratwurst beißen:
„Herr, sei mir dickem Sünder gnädig.“
Sie sehen, die Grenzen sind fließend und ich habe immer beides in mir:
den Selbstgerechten – und den Selbstgerechten.
Entweder freue ich mich, dass ich vegan lebe, dass ich so sportlich bin – oder ich äußere mich abfällig gegenüber denen, die wenigstens versuchen, halbwegs gesund zu leben.
Doch krank werden können beide: die einen sind übervorsichtig, die anderen übergewichtig.
Im Grunde sind beide wie dieser Pharisäer.
Was macht der Zöllner anders?
*
„Herr, sei mir armem Sünder gnädig.“
Er verzichtet auf etwas, das uns Pharisäern so unendlich wichtig ist.
Er verzichtet auf den Stolz.
Die englische Schriftstellerin Zadie Smith sagt: „Stolz ist doch etwas merkwürdiges. Sollte ich stolz auf meinen weißen Vater sein – oder auf meine schwarze Mutter? Ich habe nichts dafür getan, oder? Ich bin froh, dass ich diesen tollen, warmherzigen Vater habe und diese Mutter, die mir so viel liebe gegeben hat. Ich freue mich, ja. Aber Stolz?
Ich bin dankbar, dass ich in Großbritannien lebe, aber stolz darauf, Engländerin zu sein? Ach, ich weiß nicht…“
*
Dass wünsche ich uns selbstgerechten Pharisäern – die sind wir als Christinnen und Christen ohne Zweifel immer wieder: Ich wünsche uns, dass wir unseren Stolz überwinden und einfach nur dankbar sind für das große Geschenk des Glaubens.
Dass ich wünsche ich uns grüblerischen, an uns selbst zweifelnden Zöllnern – denn auch das ist uns ja nicht fremd: dass wir froh sind über die Liebe, die uns begleitet auf unseren gerade und unsren krummen Wegen.
Amen.

Liebe?

Pep Guardiola hat gesagt:
„Alles, was ich in meinem Leben tue, tue ich, um geliebt zu werden.“
Wer wollte leugnen, dass das stimmt? Ich strebe nach Anerkennung, nach Liebe.
Die anderen sollen mich toll finden, bewundern, lieben für das, was ich tue.
Sollen sie?
Einerseits schon.
Aber es ist schrecklich, wenn das alles ist.
„Alles was ich tue, tue ich um geliebt zu werden.“
Dieser Satz allein ist eine Tragödie.
Ich brauche auch den zweiten:
„Alles, was ich tue, kann ich nur tun, weil ich geliebt werde.“
Ich gebe zurück? Nein, das wäre zu wenig. Ich mache was draus.
Das Leben ist beides. Balzen um Liebe und geliebt werden, einfach so.