Ich bin getauft

 

Ich bin getauft
Meine Eltern haben mich taufen lassen, als ich ein Baby war. Hat das heute noch eine Bedeutung für mich?
Der Schriftsteller David Foster Wallace schildert in „Für immer ganz oben“, wie ein 13jähriger Junge das erste Mal vom 10 m Turm springt.
Er steht im Freibad in der Schlange am Sprungturm: „Von einem bestimmten Punkt an sind in der Schlange mehr Menschen hinter dir als vor dir.“
Schließlich steht er auf der Leiter: „Auf der Leiter wiegst du wirklich etwas. Die Erde will dich wieder.“
Es geht langsam nach oben. Es ist windig hier. „Wenn du erst mal auf der Leiter stehst, gibt es kein zurück mehr.“ Er steht ganz oben. Vor ihm noch eine ältere Frau, dann ist er dran. Er sieht sie abspringen. Sie verschwindet aus seinem Blickfeld.
Er horcht. Viel zu lange hört er nichts. Dann klatscht sie ins Wasser.
Ein Geräusch, ein paar Spritzer, Wellen, Luftblasen, die aufsteigen, dann ist das Wasser wieder ruhig. Als sei nichts gewesen.
„Hey! Junge! Was ist los? Ich will hier nicht ewig warten!“ Die Stimme hinter ihm. Jetzt ist er dran.
Klar, der Sprung ist schwer. Lass dich fallen. Vertrau darauf, dass die Liebe dich umfängt wie das Wasser der Taufe. Lebe. Und stirb. Lass deine Ängste sterben. Auch die vor dem großen Tod. Egal, ob sie dich schubsen oder ob du springst, es wird dich umfangen, aufnehmen. Wichtig ist nur: das Wasser, das Leben, macht dir keine Angst mehr. Im Wasser bist du fast nackt. Nichts unterscheidet dich von den anderen und doch bist du einzigartig.

Du bist getauft.

(Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung)

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