Schlagwort: Glaube

Am Bett der alten Dame

Am Bett der alten Dame.
Sehe nur graue Haare, ein kleines Gesicht. Leuchtende Augen. Eine leise, atemlose Stimme mit leichtem Akzent.
Rumänien!
Die Heimat klingt mit, in jedem Wort.
Wie schön es da war! Doch dort gibt es schon lange keine Deutschen mehr.
Sie ist ganz allein; ihr Sohn mit knapp fünfzig gegangen. Sie hat ihn die letzten Jahre gepflegt.
Doch keine Bitterkeit in ihrer Stimme. Keine Trauer. Es ist wie es ist. Und es war gut.
Sie hat noch zwei Wünsche: die letzte Ölung. Und dass die Friseurin noch mal kommt.
Sie will ja schließlich gut aussehen, wenn sie da oben ankommt…

Weißer Sonntag

Liebe Konfirmandinnen!

Wir haben Euch drei in der Osternacht in der St. Martini Kirche getauft.
Dann habt Ihr mit Euren Taufkerzen das Licht in die dunkle Kirche getragen.
Was für ein bewegender Moment für uns alle!
Ihr hattet euch schick gemacht, in schwarzen und weißen Kleidern. Und ich habe Euch vom Weißen Sonntag erzählt:
Schon in den ersten Gemeinden haben die Christen sich gern in der Osternacht taufen lassen. Bis zum Sonntag nach Ostern, dem „weißen Sonntag,“ durften die Täuflinge dann ein weißes Gewand tragen. Sie haben damit aller Welt gezeigt: Mit der Taufe beginnt etwas Neues, Helles in meinem Leben. Ich bin wie neu geboren. Und so heißt auch der Sonntag nach Ostern: Quasimodogeniti – „Werdet wie die neugeborenen Kinder.“
Ihr werdet gerade erwachsen. Auch wenn ihr das im Moment vielleicht gar nicht so gerne hört, aber zum erwachsen werden gehört auch das:
Kind bleiben.
Staunen können.
Jeden Tag das Wunder des Lebens mit neuen Augen sehen – wie den Tau auf der Wiese am frühen Morgen.
Mit dem Wasser der Taufe bringen wir Christen zum Ausdruck:
„Du bist geliebt. Du bekommst jeden Tag einen neuen Anfang geschenkt, wirst neu geboren. Diese geheimnisvolle Kraft, die wir die Liebe Gottes nennen, wird dich dein Leben lang begleiten.“
Ich wünsche Euch, dass ihr das nie vergesst:
Ihr seid getauft! Bringt Licht in die Welt! Und dieses Licht begleite euch am Tag und in der Dunkelheit.
Euer Pastor Friedhelm Meiners

Karfreitag

Karfreitag.
Du denkst nach über das Leid des Einen.
Den Gekreuzigten.
Er steht dir vor Augen.
Auch wenn du es nicht wahrhaben willst: unter dem Kreuz stehst du im Zentrum des Glaubens. Im Zentrum des Lebens.
Dieser grausige Tod vor fast 2000 Jahren.
Geht dich das überhaupt noch was an?

Soweit ich sehen kann, steht in keiner anderen Religion der Tod des Religionsstifters im Zentrum – egal, ob du in ihm Gottes Sohn siehst oder nicht.
Das Kreuz im Zentrum.
Ob du es willst oder nicht – es hat Auswirkungen auf deinen Glauben.
Auf dein Leben.
Das Leiden des Einen.
Das Leiden der Vielen.
Dein Leiden.
Es gehört nicht nur dazu. Es ist nicht nur ein Makel. Es ist dein Erkennungsmal. Du trägst es immer mit dir. Wie Kain sein Mal auf der Stirn.
Der Gekreuzigte.
Seine Jünger werden ihn wiedersehen.
Und woran werden sie ihn erkennen?
An seinen Wundmalen.
Am Kopf.
Sie haben ihm eine Dornenkrone aufgepresst.
In den Händen und Füßen.
Sie haben ihn festgenagelt.
In der Seite.
Sie haben seine offene Flanke gefunden. Und hemmungslos drin rumgebohrt.
Die Wunden verheilen.
Doch der Schmerz? Die Erinnerung?
Die bleiben.
Nie wieder! Nie wieder möchtest du so etwas erleben.
Du wirst deine Wundmale verstecken.
Keiner soll sie sehen! Deine Freunde nicht und deine Feinde schon gar nicht.
Du versteckst deine Wunden.
Versteckst dich selbst. Willst nicht gesehen werden, nicht erkannt.
Verschwindest. Hinter der Maske.
Du denkst über die Wunden der anderen nach.
Siehst das Leid dieser Welt.
Denkst: „Ach, mir geht es doch gar nicht so schlecht – wenn ich an die Menschen in der Ukraine denke oder die Afrikaner, die auf Nussschalen versuchen, nach Europa zu kommen.“
Man muss immer nach unten schauen. Auf die, denen es wirklich schlecht geht. So ist das.
Ist das so?
Der Sohn Gottes versteckt seine Wunden nicht.
Er zeigt sie.
Seinen Vertrauten, seinen Freunden.
Und du?
Hast deine Wunden so gut versteckt, dass du sie selber nicht mehr siehst. Und wenn der alte Schmerz wieder aufbricht, wunderst du dich, wo er wohl herkommt.
Was haben sie dir für eine Dornenkrone in die Stirn gepresst?
Geflochten aus Vorurteilen und Denkverboten, aus „Das macht man nicht“ und „Das ist nun mal so.“
Und du?
Hast einen eleganten Hut aus deinen eigenen Gedanken, deinem Weltgebäude drüber gestülpt.
Die Narben darunter darf keiner sehen. Nicht mal du selbst.
Denkst in den Mustern, die sie dir eingeprägt haben.
Ist nun mal so.
Und sie haben dich auf deine Rolle festgenagelt.
„Hey! Du Weichei! Sei kein Mädchen!“
„Du läufst ja rum wie ein Kerl! So kriegst du nie einen ab!“
Und schon wusstest du, wo es langgeht. Und vor allem: Wo nicht.
„Aber das ist doch normal! Das geht doch allen so!“
Ja, so ist das. Nägel sind Massenware.
Aber das macht es nicht besser.
Und wie oft haben sie deine schwache Seite gesucht und gefunden – drin rumgebohrt, schon in der Schule, schon in der 1. Klasse. Kinder sind grausam.
Die Wunden sind da. Gut verborgen unter den Schichten deiner Jahre. So gut, dass du sie selbst kaum noch siehst.
Was kannst du tun?
Jesus ist sich seiner Wunden bewusst.
Und zeigt sie seinen Freunden.
Sie erkennen ihn an seinen Wunden. Sie gehören dazu. Machen ihn zum Sohn Gottes, zum Menschensohn.
Schau auf deine Wunden. Schäm dich nicht für sie.
Und immer wenn du denkst: „Das ist nun mal so!“ dann sei dir bewusst: Du hast den Hammer schon in der Hand und nagelst einen anderen fest auf das Gerüst, das du für das Leben hältst.
„Das ist nun mal so.“
*
Doch es ist nicht nur die Scham. Es gibt noch einen Grund, warum du deine Wunden so sorgsam versteckst, warum du sie niemandem zeigen willst.
Du willst niemanden damit behelligen.
Du willst niemandem zur Last fallen.
„Ich will niemandem zur Last fallen.“
Wie oft hörst du diesen Satz. Wie oft sagst du ihn selbst:
„Ach lass mal. Geht schon.“
„Ich will niemandem zur Last fallen.“
Was für ein schrecklicher Satz. Und so unsinnig. Du kannst nicht leben, ohne anderen zur Last zu fallen. Du hast als Baby geschrien, wie alle Babys. Warst deinen Eltern eine absolute Last, hat ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Du warst ihre Last – und warst ihr Leben. Eines ist ohne das andere nicht denkbar.
Liebe ohne Last ist wie Leben ohne Liebe.
Keinem zur Last fallen?
Schau auf Jesus in Gethsemane.
Der will in dieser Nacht auf keinen Fall allein sein. Er will, dass seine Jünger mit ihm wachen und beten. Ja, wer will ihnen zur Last fallen, er braucht ihre Liebe.
Doch sie sind nicht da.
Schlafen ein.
Immer wieder.
„Ich will keinem zur Last fallen.“
Diesen Satz hörst du immer wieder – und denkst es womöglich selbst.
Diese Debatte ist ja allgegenwärtig:
„Wenn ich krank werde oder alt und dement – dann will ich vorgesorgt haben. Dann will ich selbstbestimmt in Würde abtreten. Dann will ich keinem zur Last fallen.“
„Ich will keinem zur Last fallen.“
Wenn du diesen Satz sagst, oder wenn du ihn hörst, dann ist Karfreitag:
Weil du nicht glaubst, dass du der Liebe zur Last fallen darfst.
Oder weil du schläfst und deine Liebe nicht zeigst.
Doch Karfreitag ist nicht das letzte Wort.
Du wirst erkannt. An deinen Wunden.
Und du wirst erkennen:
Die Last ist leicht – wenn sie von der Liebe getragen wird.

aufgelesen…

… ein Gedicht von Uwe Dick, es lässt mich nicht mehr los.
Laut gelesen entwickelt es seine ganze Kraft – und sein Lächeln…

wer weiß denn…

wer weiß denn ihr gräserzungen
fabelschatten ob im innern
des denkens – unergründlich
wie das nachtaug der kröte
oder die wege des quarzes
durch den granit – statt eines
letzten wortes nicht doch
ein lächeln beschlossen ist…

jenes o kerkerherz, das du
deiner liebe – wie oft? – versagtest
(geröllnächte lawinentage und
dergleichen ausreden) obwohl
es einzig ihr bestimmt ist
echo: „dir fliegt mein herz
wie ein törichter vogel zu“ und:
„in die sterne baun wir unser nest.“

mehr glück als verstand
im reißenden flug der jahre
ein wenig halt zu finden
„und jemands stunde ist schon nah“
bitt ich nun – dem fliehen
des tages ausgesetzt wie du
meine schwarze zikade –
um die gunst des augenblicks…

daß ich es nicht schuldig bleib´
jenes lächeln – nachts beschworen
tags verraten? – ohne das mein wort
nur ein mundvoll leere ist
ölig wie ein tischgebet
bis ins requiem der mörder
die nicht leben und
nicht sterben können…

ein tag ohne lächeln – schwärzer
als eine nacht ohne stern

Uwe Dick

Dein Wille geschehe

Wort zum Sonntag für die Braunschweiger Zeitung.

Samstagmorgen.
Ich stehe beim Bäcker in der Schlange. Draußen regnet es wie aus Kübeln.
„Na Herr Pastor,“ sagt die Frau neben mir, „das ist jetzt ja wohl das Wetter für das ganze Wochenende.“ Ihre Stimme klingt ein wenig vorwurfsvoll, als wollte sie sagen: „Als Pastor können Sie doch wohl wenigstens für gutes Wetter sorgen, oder?“
Wir wissen es ja alle: So funktioniert das nicht. Aber manchmal würden wir schon ganz gern unsere Bestellung aufgeben:
„Das Picknick ist vorbereitet, das Fahrrad aufgepumpt – jetzt musst Du nur noch für gutes Wetter sorgen. Ist ja nicht zu viel verlangt, oder?“
Das Gebet hat eine große Kraft, doch es ist keine Wunscherfüllungsmaschine.
Beten ist eher eine Haltung:
Dein Wille geschehe…
Dieser Wille ist zu groß für mein Begreifen. Ich verstehe Dich oft nicht. Ich weiß nicht, was Du heute mit mir, mit Deiner Welt vorhast.
Aber Dein Wille geschieht. Auch ohne dass ich etwas tue
*
Ich habe im Garten ein Stück Rasen umgebrochen, für die neue Saat vorbereitet.
Nun liegt die Erde dort, im satten Braun und krümelig und wartet.
Sie wartet auf Regen und Sonne. Die Erde nimmt, was kommt: den Grassamen, den wir aussäen – aber auch den Löwenzahn, vom Wind herbei gepustet.
Sie wartet auch auf das, was in ihr ruht: kleine Pflanzen, die ich nicht rausgesammelt habe; Samen, so klein, dass mein Auge sie nicht wahrnimmt. Das alles wird wachsen. Einfach so.
In einem alten irischen Segen heißt es:
„Ob du es merkst oder nicht,
ohne Zweifel entfaltet die Schöpfung sich so,
wie sie es soll.“
Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini

Die Aufgabe der Kirche

Der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan schreibt in einem Artikel in der Reihe „Papst und die Welt“ in der Süddeutschen Zeitung:

Die vorrangige Aufgabe besteht darin,
„den Verstand und das Herz
nach dem Sinn des Lebens und des Todes zu befragen,
nach der Würde der Geschöpfe in ihrer Vielfalt,
nach den höchsten Werten und Zielen,
die universell sind,
weil wir sie alle gemeinsam haben,
und denen sich keine Gesellschaft entziehen kann.
Die Kirche wartet auf eine solche Botschaft und ein solches Pastorat,
wie übrigens alle spirituellen und religiösen Gemeinschaften dieser Erde“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Alles hat seine Zeit

mein „Wort zum Sonntag“ für die Braunschweiger Zeitung:

Alles hat seine Zeit

„Alles hat seine Zeit“ heißt es in der Bibel:
„Einpflanzen hat seine Zeit – und Ausreißen hat seine Zeit.
Weinen hat seine Zeit – und Lachen hat seine Zeit.“
Du musst es nehmen, wie es kommt. Du kannst dem Fluss der Zeit nicht entrinnen.
Das klingt ja fast schon buddhistisch und widerspricht unserem Weltbild.
Wir haben Zeit – oder wir haben keine. Aber dass die Zeit uns hat, das wollen wir nicht wissen.
Älter werden hat seine Zeit.
Wer will das hören in einer ewig jungen Gesellschaft?
Krankheit hat ihre Zeit.
Wie soll das gehen?
Alles hat seine Zeit? Wir haben ein anderes Verständnis.
In der Wirtschaft heißt es:
„Wachstum hat seine Zeit – und Wachstum hat seine Zeit.“
Und wehe, wenn nicht! Dann geht die Welt unter! Dass die chinesische Wirtschaft im vergangenen Jahr „nur“ um acht Prozent gewachsen ist, ist schon ein Alarmzeichen.
Die Werbung schreit uns den ganzen Tag an:
„Lachen hat seine Zeit – und Lachen hat seine Zeit.“
Und wenn du mal nicht lachen kannst, dann machst du etwas falsch!
Im Berufsleben haben viele Menschen das Gefühl:
„Funktionieren hat seine Zeit – und Funktionieren hat seine Zeit.“
Und wenn du nicht funktionierst, dann sieh zu, dass du dich möglichst schnell reparieren lässt.
Doch wie sollen unsere Kinder Kinder sein, wenn sie nicht mehr selbstvergessen spielen dürfen? Wie sollen unsere Jugendlichen erwachsen werden, wenn wir ihnen keine Fehler und Umwege mehr zugestehen? Und wie sollen wir in Würde alt werden, wenn wir ewig jung bleiben wollen?
Alles hat seine Zeit; auch die dunklen, traurigen Seiten des Lebens.
Eine Gesellschaft, die das nicht akzeptiert, ist krank.
Friedhelm Meiners, Pastor an St. Martini

In die Zukunft schauen…

Würdest du gern in die Zukunft schauen?

Die meisten antworten auf diese Frage:
„Man gut, dass man das nicht kann.“
Ist das so?
Von Jesus wird berichtet, dass er genau wusste, was auf ihn zukommt:
Folter und Kreuz. Er kündet es seinen Jüngern sogar an.
Wie kann er dann so gelassen sein? So gegenwärtig? Wie kann er so sorglos sein wie die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde?
Ach, das ist ja kein Geheimnis. Wir wissen es doch alle:
Du kommst durch die finstersten Täler und über die höchsten Berge – wenn du weißt:
Ich werde erwartet.
Frohes Neues Jahr!

Abraham oder die Versuchung des Alters

„Abraham aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.“
Ein alter Mann, fürwahr! Was hat den eigentlich getrieben?
In der Bibel heißt es ganz schlicht: „Und der Herr sprach zu ihm.“
Den Herrn kannst du durch „das Leben“ ersetzen, oder „die Sehnsucht“ oder auch die drohende Langeweile. Jedenfalls verfolgt er ein ganz anderes Lebensmodell als wir: Mit 75 will doch nun wirklich keiner mehr arbeiten. Und schon gar nicht die Stadt verlassen und als Nomade durch die Gegend ziehen. Rechtlos und nur mit dem, was er und seine Sippe tragen kann. Altersvorsorge hat er ja betrieben, er ist ein vermögender Mann. Und wenn er schon keinen Sohn hat, so doch Lot, seinen unsteten Neffen. Den zieht er mit.
Er gibt seine Träume nicht auf; nicht den vom Sohn und auch nicht von den von einer Zukunft. Und er ist sich sicher, dass das Leben auf seiner Seite steht, immer noch. Warum eigentlich? Er ist alt. Hat es hinter sich. Nicht nur für uns, auch für seine Verwandtschaft, für „seines Vaters Haus.“ Die Erben lecken sich schon die Lippen. Wo kein Sohn ist wird verteilt.
Er hört eine Stimme.
Die sagt: „Das war es noch nicht, mein Lieber!“
Es ist so schön, sich einzurichten. Es ist so bequem zu sagen: „Das muss ich mir nicht mehr antun.“ Es ist ja vorgesorgt.
Abraham sagt das nicht.
Er widersteht der Versuchung des Alters.